Essen. Jenseits von Santiago de Chile liegen die Osterinseln mit ihren mysteriösen Steinstatuen. Kommt man mit den Menschen dort ins Gespräch, erzählen sie allerhand über die alte Kultur und Lebensweise. Neben Touristen ziehen die Osterinseln auch jedes Jahr viele Esoteriker an.

Die aparte Holländerin blickt uns an und raunt: „Tepito o tehenua!“ Nabel der Welt. Wir hocken an der Nordküste der Osterinsel um einen Stein von der Größe eines Medizinballs, legen die Hände und senken die Stirn darauf und lauschen. Wir hören nur die Wellen, die gegen die Felsen schmettern. Die Holländerin vernimmt mehr. Sie atmet heftig, keucht, schmiegt ihr Ohr an den Stein, von dem Insulaner behaupten, er stelle exakt den Nabel der Welt dar. Sie ist an ihrem esoterischen Ziel angekommen. Der Weg war weit.

Von Santiago de Chile bis zur Osterinsel beträgt die Flugzeit fünfeinhalb Stunden: 4.000 Kilometer. Drei Stunden flackert auf der Positionskarte im Flugzeug das blaue Nichts. Dann taucht plötzlich ein Punkt auf, der Autopilot hat die Stecknadel gefunden – die geografisch einsamste Insel der Erde.

Der Hauptort Hanga Roa ist ein Puzzle aus bunten Häusern. Duftende tropische Blütensträucher decken einige Investitionsruinen zu. An zwei Hauptstraßen gibt es Cafés, Souvenirgeschäfte und die einzige Kirche von Rapa Nui. Es gibt Markthalle, Verwaltung, Gericht, Post, Hospital und ein Fußballfeld, das sich zwei Teams teilen, indem sie fortlaufend gegeneinander antreten. Frauen dominieren das Dienstleistungsgewerbe, Männer teilen sich in 27 Polizisten und Arbeiter, die so gut wie alles können (müssen). Dann gibt es noch die wilden Kerle mit struppigen Bärten und roten Piratenhalstüchern auf Pferden – stets ohne Sattel. Sie preschen zwischen Autos hindurch, binden ihr Pferd vorm Supermercado an und galoppieren zum Hafen, um in der Kneipe ein Bier zu zischen. Sie lassen sich gern gegen Entgelt fotografieren.

Roggeven war Namensgeber

Seeleute hatten es schwerer als Flugpassagiere. 1722 segelte der holländische Kapitän Jacob Roggeven wochenlang durch die Wasserwüste. Die Spannung an Bord muss unerträglich gewesen sein, die Vorräte gingen zur Neige. Plötzlich tauchte Rapa Nui vor dem Bug auf: fast baumlos, mit schroffen Küsten und Vulkanbergen. Ein Flecken Land von 180 Quadratkilometern Größe, bis 370 Meter über der Wasserfläche. Rapa Nui, Großer Stein. Tätowierte Eingeborene, die zusammenliefen und auf die Zugereisten in einer melodiösen Sprache einplapperten, hatten bis dahin geglaubt, sie seien die einzigen Menschen. Es war Ostern, deshalb nannte Roggeven die Insel Isla de Pascua, Osterinsel.

Abgeschieden schufen die Insulaner Moai, Kolossalfiguren mit stilisierten Gesichtern, überdehnten Ohren, langen Nasen, Strichlippen und kantigen Stirnen, die Augen spöttisch zum Himmel gerichtet. Sie hievten sie auf Steinpodeste entlang der Küste, Rücken zum Meer, Gesicht zum Inselinnern. Knapp tausend Moai gibt es auf der Insel, die meisten sind um 15 Meter hoch, die größten mehr als 21 Meter, der Großteil liegt mit der Nase im Staub. Starke Stürme, Tsunamis und kämpfende Menschen haben sie gestürzt.

Vernichtender Bürgerkrieg

Im Mittelalter soll es rund 20.000 Inselbewohner gegeben haben, heute sind es 5.000. Davon 3.500 Einheimische, die anderen kommen vor allem aus Chile, das 1888 die Osterinsel annektiert hat. Zuvor, um 1350, war König Hotu Matua mit 300 Mannen angelandet, dazu Hühner als Haustiere und Ratten als blinde Passagiere. Sie kamen vermutlich von den Marquesas-Inseln mit zwei Doppelbooten, hatten 120 Tage Irrfahrt durch den Pazifik hinter sich und wollten nie wieder zwischen die tobenden meterhohen Wellen. Deshalb blieben sie, machten sich die Insulaner untertan und nahmen sich deren Frauen, Tiere und Land. Sie nannten sich Langohren, während die Angestammten, die sie zu ihren Sklaven machten, Kurzohren waren. Der Konflikt war vorprogrammiert.

Rapa Nui am 27. Breitengrad verdankt seine Existenz unterseeischen Vulkanausbrüchen vor etwa drei Millionen Jahren. Auf dem mineralienreichen Lavagrund wächst eine reiche Pflanzenwelt, darunter wunderschöne Palmen. Kaum zu glauben, dass es davon keine einzige mehr gegeben haben soll, als es zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum grausamen Bürgerkrieg kam. An dessen Ende existierte keine höhere Pflanzenart mehr, kein Haustier, keine Zivilisation. 1862 wurden auf Rapa Nui 111 Überlebende gezählt.

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Heutige Einwohner wollen nicht mehr in Lang- und Kurzohren eingeteilt werden, sie sind eher Schlitzohren. Da niemand wirklich Genaues weiß und die historisch-archäologische Fachwelt zerstritten ist, erzählen sie Touristen gerne das, was die hören wollen. Wie Roberto. „Die Moai haben lange Nasen. Früher wurden allen Bewohnern die Ohrläppchen langgezogen“, sagt er. Auf die Frage nach dem Kannibalismus während der sozialen Aufstände antwortet er: „Na klar, in Abfallhaufen sind viele Menschenknochen gefunden worden.“ Priester sollen Gefangene und kleine Kinder erst geopfert, dann geschlemmt haben. Seltsame Sexualriten? „Aber ja, Mädchen der Oberschicht wurden in Höhlen gesperrt, mit Brei gemästet und durften nicht an die Sonne, weil fett und bleich sexy war. Ich zeige euch die Höhlen.“ Tattoos? „Du wirst keinen Rapa Nui sehen, der nicht irgendwo tätowiert ist.“ Die Bildsymbole überall als frühe Sprache? „Wir haben ein eigenes Schriftsystem entwickelt, Rongo-rongo, das einzige in Polynesien.“ Die vielen Vulva-Abbildungen auf Steinen? „Unsere Frauen brauchen viel Liebe. Wenn du nett zu einer bist, verspricht sie dir alle Geheimnisse der Insel zu zeigen.“ Dabei lacht Roberto, der Vater von drei Kindern mit drei Frauen ist.

Hier gehen die Uhren anders

Rapa Nui zeigt seine Geheimnisse, bleibt aber ein Geheimnis. Besiedlungsgeschichte und Riten hat die Wissenschaft noch nicht exakt geklärt, den Insulanern ist das eh egal. Sie leben im Hier und Heute, das Gestern ist für Anekdoten gut.

So der Besuch von Diktator Pinochet, als er, prostatageschädigt, nur noch wenige Monate hatte. Er brauchte immer lange auf der Toilette, sagen sie, und einmal glaubten seine Bodyguards, er sei bereits zu den Moais gefahren worden. Alle sprangen in ihre Autos. Als Pinochet nach langem Tröpfeln den Ort seiner Folter verließ, war niemand mehr da, nur noch ein kommunistischer Kellner, der letzte auf der Insel. Ausgerechnet der fuhr den Kommunistenfresser im klapprigen Auto zu den Kolossen. Dort waren die Uniformierten kolossal entsetzt. Drollige Geschichte, aber ist sie wahr?

Auf der isolierten Insel gehen nicht nur Uhren anders. Zwischen archäologischen Feldern, megalithischen Büsten und im Schnitt 3,40 Meter langen Moai-Nasen wird die Realität zur Ansichtssache. Das macht Rapa Nui auch sympathisch.