Neu Delhi. Indien ist voller Hierarchien, Bürokratie und Papier - und kaum etwas hatte dort bislang mehr Autorität als ein Telegramm. Das hat nun ein Ende: Am Montag wurde das letzte Telegramm verschickt. In den meisten anderen Ländern der Welt sind Telegramm-Dienste für die Bevölkerung längst abgeschafft.

Das in Indien wohl am häufigsten verschickte Telegramm lautet: "Vater krank STOP Komm schnell". Wer damit zum Vorgesetzten ging, konnte sicher sein, ungeplanten Urlaub zu bekommen. Sogar, wenn es mehrfach vorkam. Denn die mit der Maschine eingehackten Großbuchstaben strahlten Autorität aus - gerade in Indien, wo die Liebe zu bürokratischem Papier und Hierarchien besonders ausgeprägt ist.

Auch Neuigkeiten über Geburten, Todesfälle und Gratulationen rasten Tausende Kilometer über den riesigen Subkontinent - bis heute. "Wenn das kleine rechteckige Papier zugestellt wurde, wusste man nie, ob die Neuigkeit gut oder schlecht war. Aber man wusste, es muss etwas Wichtiges sein, das unmittelbare Aufmerksamkeit einforderte", schrieb Kolumnist Jug Suraiya in der Zeitung "India Today".

Ende nach 163 Jahren

Nun ist das Ende der Papierstreifen gekommen. Nach 163 Jahren stellte die staatliche Telekommunikationsgesellschaft BSNL am Montag ihren Dienst ein. "Mit SMS, Faxen und E-Mails hat der Telegramm-Service seine Relevanz verloren", sagt ein BSNL-Sprecher. Während vor Jahrzehnten täglich noch Hunderttausende Depeschen verschickt worden waren, waren es einem Medienbericht zufolge zuletzt etwa 5000. Der Dienst trage sich finanziell nicht mehr, schon seit vielen Jahren habe er Millionenverluste eingefahren.

In den meisten anderen Ländern der Welt sind Telegramm-Dienste für die Bevölkerung längst abgeschafft. In Indien nutzten die altertümliche Nachrichtenform zuletzt vor allem noch Verwaltungen sowie Soldaten, die aus Camps in abgelegenen Regionen des Landes mit ihren Familien kommunizierten. Gewerkschaften setzten sich in den vergangenen Wochen für den Erhalt zumindest eines Notdienstes ein, schon aus Denkmalgründen - vergeblich. Die rund 1000 Mitarbeiter der Telegrafenämter sollen nun in den Telefon- und Internetabteilungen unterkommen.

Junge Inder können mit dem Dienst wenig anfangen

Das erste Telegramm auf dem Subkontinent war bereits am 5. November 1850 verschickt worden, zwischen Kolkata, damals noch Calcutta, und Diamond Harbour etwa 50 Kilometer südlich davon. Drei Jahre später führten die Masten schon nach Peshawar, Agra, Chennai, Mumbai, Bangalore und fast alle anderen großen Städte des Landes. Bis 1854 durfte nur die britische East Indian Company den Dienst verwenden - dann stand er allen offen.

Indische Reporter geraten nicht gerade ins Schwärmen, wenn sie erzählen, wie sie nach der Recherche ein Telegrafenamt aufsuchen mussten, um ihren Artikel über den schnellen Draht zu geben. In der Redaktion musste dann alles in mühevoller Kleinarbeit erneut abgetippt werden - ohne all die STOPS. Für häufig verwendete Nachrichten gab es auch rund 40 festgelegte Nummern, neben "Vater krank" etwa auch "Glückwunsch zum Kind".

Junge Inder können mit dem Dienst wenig anfangen. "Ich habe das ein paar Mal benutzt, aber nur für Schulprojekte", sagt der 30 Jahre alte Ravi Saxena. "Wer sollte ein Telegramm verschicken wollen, wenn er eine SMS vom Handy senden kann?"

Geräte sollen erhalten bleiben

Tot ist das Telegramm aber nicht: Für die internationale Kommunikation sollen einige Geräte erhalten bleiben. Das gilt übrigens auch für Deutschland: Der Bundespräsident etwa gratulierte Prinz William und seiner Frau Kate per Telegramm zur Hochzeit - das sei die übliche Form, hieß es aus dem Präsidialamt. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte Japan so Hilfe zur Bewältigung der Tsunami-Katastrophe zu.

Ob allerdings alle Staatsoberhäupter und Regierungschefs auf diesem Weg ansprechbar sind - das weiß auch der Sprecher der Internationalen Fernmeldeunion in Genf nicht. "Unsere Fernschreibe-Experten sind tatsächlich nun alle im Ruhestand", gibt er zu. (dpa)