Wien (dapd). Prächtiger Barock und verschnörkelter Historismus bestimmten Wiens Architektur um 1900. Zweifellos ist es noch immer der Nachklang der k. u. k. Monarchie, der die Anziehungskraft der Donaumetropole ausmacht. Auch Beatrice Aumayr liebt das Habsburger Erbe ihrer Heimatstadt mit all den Palästen, Prachtboulevards und wertvollen Kunstsammlungen. Aber die junge Frau hat es damit schwer unter ihren Altersgenossen. "Was der Gast an Wien schätzt, ist den Einheimischen oftmals eine Last", gesteht die engagierte Stadtführerin. "Sie nehmen die vergangene Größe als Selbstverständlichkeit, wollen aber ein neues, modernes Wien."

Beatrice entführt uns in die "Wiener Moderne" und bleibt zunächst vor dem 1898 errichteten Ausstellungsgebäude der Secession stehen. Im Inneren des Kunsttempels verläuft der Beethovenfries des Malers Gustav Klimt (1862-1918), Mitbegründer der vom etablierten Künstlerhaus abgespaltenen Künstlervereinigung, deren Zeitschrift "Ver Sacrum" (Heiliger Frühling) hieß. Der Frühling zeigt sich von seiner besten Seite und die goldene Lorbeerkuppel funkelt in der Sonne. Modern? Modern erscheint uns das Gebäude für die Sammlung Leopold im Museumsquartier, wo sich heute die jungen Leute in Szenecafés treffen. Das Haus der Secession erinnert eher an Jugendstil. Tatsächlich. Secession wurde zum Synonym für den Wiener Jugendstil, erzählt Beatrice. Damals verspotteten die Wiener den Bau zwischen Karlsplatz und Naschmarkt als "Krauthappel", "Grab des Mahdi" oder "Laubfroschtempel".

Und welchen Aufschrei verursachte erst Sigmund Freuds auf Sexualität gegründete Psychoanalyse. Inzwischen pilgern 70.000 Freudianer jährlich in die Berggasse 19. Das in den Räumen seiner Wohnung und Praxis, die er 1938 verlassen musste, eingerichtete Museum begeht dieses Jahr sein 40. Jubiläum. Ohne Freud sei ein Wienbesuch unvollständig, sagt Beatrice. Der Wissenschaftler gehöre auf seine Art zur "Wiener Moderne", wie die Blütezeit der Kaffeehausliteraten, eleganten Salons und eben der Wiener Secession etwa zwischen 1890 und 1910 genannt wird. Andererseits sagt Egon Schiele (1890-1918): "Kunst kann nicht modern sein, Kunst ist urewig." Der Maler ist einer der jungen Secessionisten, die eine neue Lebensphilosophie mit Nacktheit und freier Sinnlichkeit in den Frauendarstellungen verkörperten.

Erst im Alter als gestandener Akademie-Professor bekannte sich der Architekt und Stadtplaner Otto Wagner (1841-1918) zur Secession. Sein Anliegen war es, aus Wien eine moderne Metropole wie Paris und London zu machen. Immerhin war sie mit über zwei Millionen Einwohnern um 1910 die viertgrößte Stadt der Welt. Dazu gehörte der Kampf gegen das Donau-Hochwasser und die Regulierung des Wienflusses, der heute unter dem Naschmarkt fließt. Obwohl ihm die Anerkennung des Langzeitregenten Kaiser Franz Joseph I. - er regierte von 1848-1916 - versagt blieb, verwirklichte Wagner mit dem Bau der Stadtbahn und mehr als 30 Stationen ein architektonisches Jahrhundertwerk.

Der Jugendstil führt inzwischen zu wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Neben Wagners Portalsgebäuden am Karlsplatz ist seine Postsparkasse am Wiener Ring sehenswert. Bei einem Naschmarktbesuch lohnt auch ein Blick auf seine Majolikafassade neben dem bekannten Theater an der Wien. In Wagners Werk vereine sich die zu Ende gehende Ringstraßenära mit dem Goldenen Frühling des Wiener Jugendstils und einem um 1900 ungewohnten Funktionalismus, resümiert Stadtführerin Beatrice.

Die Goldene Periode Klimts mit dem Hauptwerk "Der Kuss" ist im Oberen Belvedere, einem der schönsten Barockbauwerke der Welt und einstmals Sommerschloss von Prinz Eugen, ausgestellt. Im Unteren Belvedere sind derzeit Schieles Porträts zu sehen. Wir folgen seinen Spuren vor die Tore der Stadt und gelangen nach Klosterneuburg. Hier ging Schiele zur Schule, erzählt Peter Schubert beim Rundgang durch das Stift, ein wahres Prunkstück der Donauklöster. Von Anbeginn seiner Geschichte, und die reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück, habe das Stift Klosterneuburg enge Kontakte zu Künstlern gepflegt. Kein Wunder, dass hier wichtige Kunstschätze des europäischen Mittelalters zu finden sind wie der Verduner Altar von 1181. Zehn Jahre habe der Goldschmied Nikolaus aus Verdun hier an seinem Meisterwerk gearbeitet.

Egon Schiele, lächelt Schubert, war ein schlechter Schüler, zeichnete aber gut, vor allem rangierende Züge und den Tullner Bahnhof, wo sein Vater als Stationsvorsteher arbeitete. Lehrer erkannten sein Talent und förderten ihn. So kam es, dass er 1908 erstmals an einer öffentlichen Ausstellung des Chorherrenstifts Klosterneuburg im Kaisersaal teilnahm. Mit 16 Jahren war Schiele jüngster Student der Wiener Akademie der Bildenden Künste.

Der damalige Propst förderte den Jugendstil, sodass sich Elemente in Kirchen und vor allem auch in der Schatzkammer befinden, die im Mai wiedereröffnet wird. Sie zeigt eine der größten Bestände liturgischer Gewänder ganz Europas. Das Prunkstück aber ist der Erzherzogshut, die heilige Krone der Habsburger, die hier seit 1616 aufbewahrt wird.

Nach so viel "Geschichtsunterricht" geht es in die Vinothek. Das Stift mit derzeit 50 Chorherren und 25 Pfarreien, das längst zu den bedeutendsten Reisezielen des Kulturtourismus gehört, finanziere sich durch eigene Wirtschaftsbetriebe, hatte Schubert betont. Da es auch das älteste und größte Weingut Österreichs betreibt, kommen wir nicht umhin, wenigstens die eigene Marke - St. Laurent - zu verkosten. Dabei bleibt es natürlich nicht. Auf dem Rückweg nach Wien, vorbei an einer himmlischen Landschaft mit einem wahren Blütenmeer und grünen Wiesen und Feldern sowie Obstplantagen, ist Wein ein ständiger Begleiter. Denn die Donaumetropole ist von idyllischen Weinbergen umgeben.

Vielfältig präsentiert sich das Wien vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch 1918 brach nicht nur die Donaumonarchie zusammen, sondern mit dem Tod Schieles, Klimts und Wagners im selben Jahr endete auch Wiens Kunst des "Fin de Siècle".

dapd