Lenny kommt 15 Minuten zu spät. Krumm kann man das dem Mann mit den Bermuda-Shorts nicht nehmen. Entschuldigt er das doch mit seinem schönsten Lächeln. Die grauen Haare hat er kurz geschoren, seine braunen Augen schauen hellwach durch eine runde Brille. „Ok“, sagt Lenny: „Hamilton City“. Dann fährt er los.
Lenny Holder ist Taxifahrer. Seit 18 Jahren kutschiert der 68-Jährige Touristen über die 21 Quadratkilometer große Atlantikinsel, die zwei Flugstunden östlich auf der Höhe des US-Bundesstaates North Carolina im Ozean liegt. Nur 155 Kilometer misst das Straßennetz des Britischen Überseegebiets.
Kein Ziel für Raser: Nur
35 km/h sind hier erlaubt
Meist fährt Lenny schneller als die generell erlaubten 35 Kilometer pro Stunde. Manchmal, sagt Lenny, fühle er sich, als habe er einen Freifahrtschein durchs Paradies gewonnen. Was er damit meint, wird klar, fährt man selbst das erste Mal die South Road entlang: Da blitzt der Atlantik so blau, dass die Karibik vor Neid erblasst. Imposante Klippen markieren das Ende der Insel vor einem schier unendlichen Horizont. Am Außenriff kräuseln sich pausenlos Schaumkronen. Und alle paar Meter tauchen Strände auf, die regelmäßig von Lesern der großen US-Reisemagazine in die Top Ten der Welt gewählt werden.
90 Prozent der Touristen, die nach Bermuda reisen, kommen aus den USA. Meist sind sie wohlhabend. Bevorzugt spielen sie Golf oder gehören zur Gilde der Kreuzfahrer, die täglich zu Tausenden an drei Terminals ausgespuckt werden. Die Masse der Amerikaner prägt das Bild der Insel so stark, dass vielerorts nur noch der Kopf der Queen auf dem Bermuda-Dollar daran erinnert, dass man sich auf einer britischen Kolonie befindet.
Die Inselbewohner sprechen amerikanisches Englisch. Die Supermärkte sind so vollgestopft mit US-Produkten, dass in den meisten Filialen nicht einmal mehr eine Sorte Bier aus dem englischen Mutterland zum Sortiment gehört. Und die Hotels tischen zum Frühstück auf, was die Supermacht so gerne hat: Pancakes mit Sirup, Speck und jede Menge Würstchen und ein Kaffee so dünn, dass man durch ihn die Zeitung lesen könnte.
Nach dem Frühstück geht es für die meisten an den Strand. Und je höher ein Streifen Küste von einem US-Reisemagazin bewertet wurde, desto voller ist er. Besonders angesagt: Horse-shoe Bay an der Südseite – angeblich der zweitschönste Strand unseres Planeten. Gleich am Eingang empfängt den Urlauber ein immer sauberes Toilettenhaus. Ein Stand mit Sandwiches befindet sich gleich nebenan. Und endlich, nach dem T-Shirt-Stand, kommen das Meer und der Strand, an dem so viele Urlauber liegen, dass sich Mallorca nicht zu verstecken bräuchte.
Aber nur fünf Gehminuten in Richtung Chaplin Bay gilt es zu investieren, um einen Strand für sich allein zu haben. Ein Stück Land, an das sich türkisblau der Atlantik wirft, mit feinem Sand, der leicht rosa in der Sonne schimmert. Ein einsames Stück Bermuda, wie es Touristen noch oft im Süden finden, und wie es im Jahr 1609 die ersten Kolonisten vorgefunden haben – englische Seefahrer, deren Schiff am Riff zerschellt war.
Doch die Zeiten, in denen Kapitäne die Bermuda-Inseln – sie bilden den nördlichsten Punkt des so genannten Bermuda-Dreiecks – fürchteten, sind lange vorbei. Zu verdanken ist das dem Schriftsteller Lawrence Kusche, der in seinem Buch „Die Rätsel des Bermudadreiecks sind gelöst!“, beweist, dass – bis auf drei Fälle – alle Geschichten von gesunkenen Schiffen und abgestürzten Flugzeugen frei erfunden oder schlichtweg falsch überliefert sind. Noch heute gilt das 1980 erschienene Werk als Klassiker der skeptischen Recherche.
Halbwahrheiten prägen das Image des Bermudadreiecks
Räumt es doch mit einer ganzen Reihe von Vermutungen und Halbwahrheiten auf, die 1974 von Charles Berlitz und J. Manson Valentine in ihrem Bestseller „The Bermuda Triangle“ in die Welt gesetzt worden waren.
Einer verdient trotzdem noch ein bisschen Geld mit dem Mythos: Heinz Sievers. Der Hausmeister vom Lighthouse Gibbs`Hill betreibt einen Souvenirladen unten im Leuchtturm, von dem jährlich rund 40 000 Urlauber den Blick über die Insel genießen. Hinter ihm hängt ein Regal, in dem die hölzernen Nachbauten jener Schiffe stehen, die der Mythos vom Dreieck unsterblich gemacht hat. Schiffe wie die Mini Breslauer, gesunken 1873, oder die Apolla aus dem Jahr 1892.
„Ich verkaufe hier alles, was kein Mensch braucht“, sagt der Deutsche, der seit 40 Jahren auf der Insel lebt. Und er meint damit T-Shirts mit Aufdrucken wie „I survived the Triangle“, „Ich habe das Bermuda-Dreieck überlebt“. Wenn man den Mann mit den blauen Augen fragt, warum er das macht, seufzt Sievers und beginnt von seinem Millionenfehler zu erzählen. 1975, sagt der Mann aus Münster, habe man ihm ein Grundstück mit zwei Häusern angeboten. Zwei Häuser für 150 000 Dollar. Sievers klingt dann, als könne er es immer noch nicht fassen, das damals ausgeschlagen zu haben. Heute ist jede dieser Immobilien 1,5 Millionen Dollar wert – der Millionenfehler des Heinz Sievers auf einer Insel im Atlantik, die heute Traumziel für Reiche wie Michael Douglas und die Gebrüder Bayer vom gleichnamigen deutschen Chemieriesen ist.
Abschalten auf hohem amerikanischen Niveau
Lenny hat Kundschaft. Wie immer kommt er zu spät, was ihm aber der Gast aus Washington nicht übel nimmt, weil Lenny zu dem „Sorry“ wieder sein schönstes Lächeln aufsetzt. Vom Golfplatz soll es in die Hauptstadt Hamilton gehen, wo der Urlauber seiner Frau etwas kaufen möchte. Schließlich gebe es dort am Hafen jede Menge Läden mit Designerartikeln. Danach erzählt er, dass er für den morgigen Tag eine Jacht gechartert habe, um am ganzjährig stattfindenden Angelwettbewerb teilzunehmen. Gestern bereits sei er am Außenriff abgetaucht. Nach 30-minütigem Monolog ist die Fahrt vorbei.
Der Urlauber aus Washington steht exemplarisch für das, was Urlauber auf den Bermudas erwartet: Golfspielen auf acht Plätzen, Hochseeangeln ohne Lizenz und ein weltberühmtes Tauchrevier. „Wer Sport treiben möchte, ist hier richtig“, sagt Lenny. Von der Surfschule über geführte Jetskitouren bis zum Wasserskiverleih gibt es alles. Dazu kommen erstklassige Restaurants, in denen das Steak schon mal 40 Dollar kostet. Es gilt der Grundsatz: Genießen ohne Reue. Abschalten auf hohem amerikanischen Standard.
Lenny schaltet am liebsten ganz unamerikanisch ab. Gerade hat er eine längere Pause zwischen zwei Fahrten und geht in ein Lokal, das eine Salsa-Nacht veranstaltet. Seine Spezialschuhe hat Holder, der auf der ganzen Insel eine echte Salsalegende ist, immer griffbereit hinten im Taxi liegen. Ein kurzer Blick in die Runde. Dann fordert Lenny die Dame seiner Wahl zum Tanz. Natürlich mit seinem schönsten Lächeln.