Der Historiker Rainer Mertens kennt kein Erbarmen. Beinahe jede überlieferte amüsante Anekdote um die erste Fahrt einer Dampflok in Deutschland vor 175 Jahren verweist er in das Reich der Legenden. Keine Bierfässer habe der rauchende „Adler“ am 7. Dezember 1835 auf dem Weg von Nürnberg nach Fürth dabei gehabt, auch wenn dies Illustrationen so zeigten. Und auch die Geschichte, dass Ärzte damals vor den Gefahren des schnellen Bahnfahrens für den menschlichen Organismus gewarnt hätten, sei „Quatsch“, sagt der Experte aus dem Nürnberger Verkehrsmuseum.Wahr ist aber, dass die Jungfernfahrt des dampfbetriebenen Schienenwagens ein Ereignis war, das Tausende Schaulustige und Korrespondenten nach Nürnberg lockte.

„Beim Herannahen des Ungetüms“, so stand es im Dezember 1835 im „Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände“, seien Pferde scheu geworden und Kinder hätten zu weinen begonnen. Mit seiner Fahrt hat der „Adler“ vor 175 Jahren das „Eisenbahnzeitalter“ in Deutschland eingeläutet. Lokomotivführer bei der ersten Fahrt war William Wilson, Ingenieur der englischen George Stephenson-Lokomotiven-Werke. Er steuerte den „Adler“ noch viele weitere Male. Schließlich blieb er der Liebe wegen in Nürnberg und ist auch dort begraben. Als junger Mann nach Deutschland geschickt, hatte Wilson den Zusammenbau des „Adlers“ geleitet. In 19 Kisten waren 100 Einzelteile per Schiff und Pferdefuhrwerk in Nürnberg angekommen. Stephenson lieferte die bisher kleinste Lok vom Typ „Patentee“. 200 000 Gulden Investitionen – davon 10 000 für den „Adler“ – waren nötig, bis der reguläre Betrieb der „Ludwigsbahn“ beginnen konnte. Diese Summe würde heute etwa sechs Millionen Euro entsprechen.

Die Hälfte der Anteilseigner waren Kleinaktionäre, sagt Historiker Mertens. 101 einfache Leute, Dienstboten, Krämer oder städtische Angestellte, legten 100 bis 200 Gulden an und strichen im ersten Betriebsjahr der Bahn eine Dividende von 20 Prozent ein. Ein halbes Jahr später benötigte die Gesellschaft für den Bau der Eisenbahnlinie zwischen Dresden und Leipzig 1,5 Millionen Gulden und hatte diese Summer in drei Stunden zusammen.

Der Mensch war in eine neue Epoche eingetreten

Die Bewegung aus dem Bürgertum setzte nach einer schweren Wirtschaftskrise ihre Hoffnung in die moderne Transporttechnik. Schon vor dem Anschluss an Bayern im Jahr 1806 war die einstmals blühende Wirtschaftsregion um Nürnberg ins Hintertreffen geraten. Bürger versuchten nun, mit dem Schienenverkehr diese Entwicklung umzukehren, wie die Dauerausstellung über die deutsche Eisenbahn im Nürnberger Verkehrsmuseum erklärt. Mit der Eröffnung der Strecke Nürnberg-Fürth lagen die Franken nur zehn Jahre hinter den Engländern, den Erfindern der Dampflokomotive. Hier hatte 1825 die „Stockton and Darlington Railway“ den Betrieb aufgenommen.“

Eineinhalb Stunden in zehn Minuten“ war der ziemlich modern anmutende Werbespruch der fränkischen „Ludwigsbahn“-Gesellschaft, die auf einer der meistfrequentierten Straßen Deutschlands eingerichtet worden war.

Komfortabel war das nicht unbedingt: „Einige klagten, dass sie rauchende Mitfahrer störten. Anderen wurde übel, weil ihr Sitzplatz gegen die Fahrtrichtung lag“, heißt es in Aufzeichnungen. Trotz solcher Unannehmlichkeiten war zumindest die dritte Klasse im Zug mit neun Waggons immer ausverkauft. Bereits im ersten Jahr lösten fast 500 000 Passagiere Billetts.

„Durch die Eisenbahn wird Raum getötet und es bleibt Zeit übrig“, schrieb der Dichter Heinrich Heine begeistert und meinte im französischen Exil 1843, dass er schon in Paris am Bahnhof deutsche Linden und die Ostsee riechen könne. Sein Kollege Joseph von Eichendorff meinte kritischer: „Diese Dampffahrten rütteln die Welt, die eigentlich nur noch aus Bahnhöfen besteht, gründlich durcheinander.“ Die „Bahnhofszeit“, wie sie Charles Dickens nannte, war ausgebrochen. Die Historiker sind sich einig: Der Mensch war in eine neue Epoche von Raum und Zeit getreten.