Der Musikexpress schießt in die Nacht: Dumpf dröhnen die Tuben, warm leuchten die Baritonhörner, hell scheppern und schmettern die Trompeten darüber. Zehn Bläser haben sich auf dem Hof eines unfertigen Neubaus versammelt und scheinen sich zu immer höherem Tempo anzutreiben: schnell, schneller, rasend. Die Zuhörer, Roma und Deutsche bunt durcheinander, schnipsen mit den Fingern, zucken in den Schultern und wagen schon mal ein paar Tanzschritte: Welchen Sog so eine rumänische Volksweise doch zu entwickeln vermag! Auf der Kiesstraße davor hat sich eine Schar lärmender Kinder und dunkelhäutiger Frauen versammelt, zwei Trunkenbolde tanzen selig durch die Menge und gelegentlich rasselt ein Pferdefuhrwerk vorbei.
Das Konzert in der Moldau im Nordosten Rumäniens ist der furiose Auftakt einer ungewöhnlichen Reise. „Romamusik live“ führt neun Tage lang auf 1300 Kilometern durch verschiedene Teile Rumäniens und stellt Musik unterschiedlicher Stilrichtungen vor: Immer aber ist es die Musik der Zigeuner, wie sie sich selbst nennen. Musik der Roma, wie sie von anderen genannt werden wollen, weil das Wort Zigeuner von fremden Mündern zu oft mit Verachtung und Misstrauen ausgestoßen wurde und wird.
Zece Prajini ist ein Musikerdorf. 80 Prozent der Männer sind Musiker, hauptberuflich oder nebenbei. Von hier stammen die elf Mitglieder der „Fanfare Ciocarlia“, die ab 1997 mit ihren verbeulten Instrumenten die Konzertbühnen der Welt eroberte. Der Berliner Helmut Neumann, einer ihrer Entdecker, begleitet die Reisegruppe als Dolmetscher und kultureller Botschafter.
Am Nachmittag haben die Gäste den Ort erkundet, eine reine Roma-Siedlung mit 400 Einwohnern. Entlang der Hauptstraße überwiegen neue Ziegelbauten mit Dächern und Zierblenden aus Zinkblech, ein paar alterskrumme Lehmhäuschen mischen sich dazwischen. Frauen winken die Fremden in ihr Haus und sehen gespannt zu, wie sie mit großen Augen die Kissenberge auf den Sofas mustern, die knallbunten Wandteppiche mit Tigern und Pfauen und das Foto des Ehemannes, der gerade, wie so viele, in Italien „in den Tomaten“ arbeitet.
Der Ehemann arbeitet
„in den Tomaten“
Übernachtet wird in den Häusern der Musiker. Mariana, die Ehefrau des Percussionisten, mollig und liebenswert, hat schon die schweren Sofas in den Zimmern ausgezogen. In der Schrankwand erinnern chinesische Vasen, ein Weinfässchen aus Plastik und ein Hologramm des Opernhauses von Sidney an die Tourneen des Hausherrn. Stolz öffnet er im Bad den Hahn mit fließendem Wasser. La buda, das Plumpsklo, steht im Garten.
Das abendliche Konzert hat inzwischen noch mehr an Tempo zugelegt. Sonnenverbrannte Männer sind dazugekommen, und Frauen mit golddurchwirkten Kopftüchern, deren Goldzähne blitzen. Es sind Caldera, fahrende Kesselmacher, die für ein paar Wochen ihre Zelte am Bahndamm aufgeschlagen haben. Einer hakt einen Deutschen unter, stolpernd suchen sie einen Rhythmus und fetzen irgendwann ab wie tanzende Derwische. Körper wirbeln, Beine fliegen, die Musiker ziehen anerkennend eine Augenbraue hoch.
Während der langen Busfahrten zwischen den Konzerten zieht Rumänien vorbei wie ein Film aus der Reihe „Bauernidylle – damals“. Rot prunken die Äpfel in den Bäumen, verwilderte Weinberge wechseln mit Hopfenplantagen, Heustöcke wachsen wie Pilze aus dem Boden. In den Dörfern mit den sonnenrissigen braunen Holzhäusern, den gedrungenen Kirchen und den schnatternden Gänseherden lassen gebeugte Frauen ihren Lebensabend ausklingen. Und vor exakt ausgerichteten Maisfeldern erinnern Plastikschilder daran, dass westliche Saatgutkonzerne Rumänien als Experimentierfeld nutzen.
Neue Städte, neue Klänge. In einem Vorort von Bukarest steht Manelemusik auf dem Programm, der moderne, allgegenwärtige Klangteppich des Balkan. In Medias in Transsilvanien spielen ungarisch beeinflusste Lautarimusiker auf. Der Teufelsgeiger lässt seine elektrisch verstärkte Fidel nicht etwa pusztaselig schluchzen, sondern sägt und schabt sich durch die Stücke und jagt seine Nebenleute ungerührt nach vorn: So klingt es, wenn jemand „Musik im Blut“ hat. Zeit für Zwischenstopps bleibt. In Bratei baumeln schimmernde Kupferkannen an Gestellen. Ge-schickt hämmern Schmiede mit mächtigen Bärten und Bäuchen Kupferplatten zu Taufbecken und Destillieranlagen. Einer der Chefs lädt in sein Haus, ein Betonschloss mit Säulen und Türmchen, Sternen und Giebelchen aus Zink. Das Wohnzimmer ist mit einer neongrünen Decke aus Tropfbeton versehen. Der junge Hausherr lässt sich stolz darunter ablichten und fragt beim Hinausgehen probehalber mal an, ob man sich nicht mit einer Spende am weiteren Ausbau beteiligen wolle. Die Besucher bedanken sich anders. Sie stellen sich auf die Straße und singen Nikolaus Lenaus Lied von den drei Zigeunern: „Dreifach haben sie mir gezeigt, wenn das Leben uns nachtet, wie man’s verraucht, verschläft, vergeigt, und es dreimal verachtet.“
Das Leben verrauchen, verschlafen, vergeigen
Mehr davon, lachen die Roma, deren Leben in Rumänien alles andere als einfach ist.
Clejani liegt mitten in der Walachei, südlich von Bukarest, ein überwiegend rumänisches 5000-Einwohner-Dorf. Aus der „Strada Lautarilor“ kommt die zweite Roma-Gruppe mit Weltgeltung, die „Taraf de Haidouks“. Ein entfesseltes Akkordeon, ein stoischer Geiger, ein Bassist, der sich in Schweißbäder zupft, ein Cymbalspieler, der die Klöppel fliegen lässt und ein 75-jähriger Sänger mit dem Charme des Immer-noch-Verführers – das öffnet die Herzen aller Zuhörer. Schmerzlich und ausgelassen zugleich klingen die Balladen, unterlegt von einer wilden Melancholie.
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Auf einmal kommt Unruhe auf der Straße auf. Ein paar Frauen schimpfen aus der Dunkelheit hinter dem Zaun. Ein Gast hat etwas Geld verschenkt. Jetzt fordern die zu kurz Gekommenen ihren Obolus. An „Teilen“, wie die Spenderin sich das vorgestellt hat, denkt scheinbar niemand. Die Hausherrin hält dagegen. Flüche purzeln, Beschimpfungen gehen hin und her, die Gäste ziehen die Köpfe ein. Da bricht offenbar vieles auf: Neid auf den mit Kohlrouladen und Pflaumenschnaps gedeckten Tisch. Ärger über die Fremden, die sich in die Siedlung wagen. Wut auf die gefragten Nachbarn. Doch schon nach zwei Minuten sinkt das Gewitter in sich zusammen, Friede kehrt ein.
Die Besucher sehen sich fragend an, ratlos nach der Erfahrung einer Fremdheit, die nicht einfach wegzulächeln ist. Und doch fasziniert von einer so ganz anderen Welt, zu der ihnen diese Reise wenigstens eine kleine Tür geöffnet hat.