So ein Hemmschuh ist eine prima Sache. Zwar wird wohl niemand im Leben gern ausgebremst, aber wer einmal auf einer Postkutsche saß, weiß die Segnungen eines Hemm- oder Radschuhs durchaus zu schätzen. 15 Prozent Gefälle liegen vor dem Vierspänner, steil fällt die Forststraße ab aus dem Starnberger Fünf-Seen-Land ins Ammertal. „Da reicht unsere normale Holzklotzbremse nicht mehr aus“, erklärt Andreas Nemitz. „Die Kutsche würde die Pferde glatt überrollen.“ Beifahrer Armin springt vom Bock und legt am rechten Hinterrad den Hemmschuh an. Eine Schaufel Sand noch auf die Straße – es knirscht, als das Gespann langsam den Berg hinunter zockelt.

Andreas Nemitz ist, so sagt er selbst, der letzte deutsche Postillon. Seit mehr als 35 Jahren reist er mit Touristen auf diversen Kutschen durch Bayern und Italien, immer akkurat gewandet in taubenblauer Uniform, mit Lodenmantel und Lackleder-Zylinder.

Auf Augenhöhe mit Elstern und reifen Kirschen

Sein bestes Stück, eine englische Postkutsche aus dem Jahr 1875, kaufte Nemitz 1977 „als Ruine für 150 Mark“. Er investierte einige zigtausend Euro, und in der Zwischenzeit hat er mit dem historischen Gefährt mehr als 250 000 Kilometer zurückgelegt. Knapp 200 kommen auf dieser Tour hinzu – hoch auf dem gelben Wagen vom Starnberger See über Bad Bayersoien bis zum Märchenschloss Neuschwanstein.

Im Talgrund lässt Nemitz seinen Pferden freien Lauf. Stolz ist er auf die drei Kladruber in seinem Gespann: Diese Tiere zogen früher am Wiener Hof die Staatskarossen. Heute zählt nicht nur ihre Heimat, das tschechische Gestüt Kladrub, zum Weltkulturerbe, sondern auch die weltweit nur rund 600 Vertreter der Pferderasse.

In mühevoller Kleinarbeit hat Andreas Nemitz die Route ausgetüftelt. Sie führt fast immer über Wald- und Wirtschaftswege, durch Wiesen, Wälder, Felder und über kleine Seitenstraßen. Bald schon wippen schläfrige Köpfe im Rhythmus der Räder, sanft eingelullt von der monotonen Sinfonie aus Hufgetrappel und Vogelzwitschern. „Für viele ist so eine Postkutschentour die Entdeckung der Langsamkeit“, philosophiert der 71-jährige Postillon. „Sie sehen Dinge, die der Autofahrer nie sehen würde, kommen in Gegenden, die für Wanderer zu weit sind, und entdecken eine ganz andere Landschaft.“ Schließlich sitzen die meisten Passagiere auf dem Dach der Kutsche im Freien, und aus der luftigen Höhe von fast drei Metern sieht die Welt ganz ungewohnt aus: Überwindbar sind plötzlich Zäune und Hecken, man sieht hinein in Gärten und Höfe. Im Wald befindet man sich auf Augenhöhe mit Eichhörnchen, Elstern und reifen Kirschen.

Bei der Einfahrt in Dörfer wie Pähl, Wilzhofen oder Marnbach zieht Nemitz sein Posthorn hervor und setzt an zur Fanfare. Überall gehen Türen und Fenster auf, bleiben Menschen stehen und winken. Standesgemäß stoppt er gegen Mittag sein Gespann vorm Gasthof Zur Post in Eberfing. „Reserviert für Postkutsche“ steht auf einem Schild am Parkplatz, und im Biergarten warten neben einem kühlen bayerischen Bier Leberspätzlesuppe, Spanferkel oder auch ein Brotzeitbrettl.

Ein Drumlin: Das klingt nach Monster, ist aber keines

Bei Eberfing machen die Zeitreisenden dann auch eine eigentümliche Bekanntschaft: „Das da vorne sind Drumlins“, weist Andreas Nemitz ins Land. Das Wort klingt irgendwie nach kleinen Monstern, doch neuzeitliche Wolpertinger sind nirgends zu sehen.

Drumlins nennen Geologen langgezogene flache Hügel, die dadurch entstanden sind, dass zwei aufeinander folgende Eiszeiten die Berge kreuz und quer schliffen und einkerbten. Wie riesige Fische liegen sie im Voralpenland – Kopf im Norden, Schwanz im Süden. Wo sich dazwischen einst das Wasser staute, fährt das Gespann heute durch duftende Hochmoore. Dann wieder wechseln sich Wälder und Rinderweiden ab, Sägewerke an Bächen und kleine Weiler mit Obstgärten.

Zu vielen Orten kennt der Postillon eine Anekdote, erzählt von späten Mädchen und „strawanzenden Burschen“. Und dann berichtet er, wie sich die Reisenden schon vor hundert Jahren die Zeit vertrieben mit kleinen Gesellschaftsspielchen: Begegnet uns als nächstes ein Zwei- oder ein Vierspänner? Sind Schimmel oder Rappen vorgespannt? Schnell ist das Ratespiel in die Neuzeit transferiert: Was für ein Auto kreuzt als nächstes? Sitzt am Steuer ein Mann oder eine Frau?

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Von DerWesten

Entgegen vieler Vorurteile ist so eine Kutschfahrt übrigens eine durchaus komfortable Angelegenheit. „Der Wagen hat eine elegante Telegraphenfederung, auch Parallelogrammfederung genannt“, erklärt der Kutscher. Die schwere Kutsche hängt also an nur vier Punkten und schwebt wie auf Wolken über die Straße. Ungemütlich wird’s auf den Außensitzen nur bei Regen. Aber schlechtes Wetter kann Postkutschenreisende nicht aufhalten.

In flüssigem Trab geht’s auf die Wieskirche zu, das Barockjuwel im Voralpenland, und weiter nach Westen. Irgendwo biegt von links aus Unterammergau das „Königssträßchen“ in die Strecke ein, auf dem König Ludwig II. gern im Galopp durch die Lande preschte. „Manchmal hat er mitten in der Nacht seine Leute rausgeklingelt, um von Neuschwanstein nach Linderhof zu fahren.“ Nicht lange dauert es, bis am Horizont das Märchenschloss erscheint. Fehlt noch der „Kini“, wie Nemitz ihn beschrieben hat: im Leopardenpelz mit vierspännigem Schlitten, flankiert von Reitern und Fackeln.