Der Bernina Express wird 100: Der berühmte Zug lockt Touristen aus aller Welt in die Bergwelt Graubündens

Und er hatte noch überlegt. Ob er ein Seil mitnehmen soll, irgendetwas, was ihm vielleicht helfen könnte. Andrea Badrutt sitzt auf einem Felsvorsprung. Gut 200 Meter über einem dieser weltbekannten Viadukte, imposante, nach antikem Vorbild gebaute Brücken, die Täler und Schluchten überwinden und über die sich der Bernina Express über die Schweizer Alpen quält. Auf der Suche nach „den anderen” Perspektiven auf die weltberühmte Zugtrasse lässt sich der Fotograf gerne etwas Besonderes einfallen. Und er ist sehr zufrieden. Denn die Aktion ist gelungen, das steht schon jetzt fest. Zug und Landschaft imposant, das Licht genau richtig – das Foto ein Volltreffer. Alles bestens also. Eigentlich.

Denn Andrea Badrutt hat kein Seil mitgenommen. „Die paar Grasbüschel rauf, das sollte doch kein Problem sein”, hat sich der Hobby-Bergsteiger gedacht. War es auch nicht. Nur runter kommt er nicht mehr. Zumindest nicht ohne Risiko. Weil die Abhänge doch zu steil, besagte Grasbüschel zu rutschig sind und überhaupt vor ihm kein Mensch auch nur den kleinsten Pfad ausgetrampelt hat. „Runter ist halt immer schwieriger als rauf.” Also sitzt Andrea Badrutt weiter auf dem Felsvorsprung.

Dabei hätte er noch reichlich zu tun. Der Bernina Express feiert das ganze Jahr über 100. Geburtstag. Da freut sich die Rhätische Bahn über neue, eben ganz besondere Motive für die Hochglanz-Prospekte.

Der Bernina Express macht Land und Leute erlebbar.
Der Bernina Express macht Land und Leute erlebbar. © TV

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Der Zug wandelt zwischen den Welten. Von Chur aus, dem knapp 600 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Hauptort des Schweizer Kantons Graubünden, geht es über Thusis und Pontresina rauf nach Ospizio Bernina, wo die Luft auf 2253 Metern schon merklich dünner und Schnee auch im Sommer nicht ungewöhnlich ist. Mit angezogener Handbremse schiebt sich der „Schnellzug” dann ins Puschlav auf der anderen Seite, über die italienische Grenze bis nach Tirano. Dort warten Palmen und mediterranes Flair. Nur der Strand und das Meer fehlen.

Christoph Benz ist diese Kontraste gewöhnt. „Es kann schon mal passieren, dass man auf dem Pass mit Schnee und Temperaturen um die null Grad zu kämpfen hat, und in Tirano freut man sich bei 25 Grad auf ein Stracciatella-Eis.” Der Lokführer der Rhätischen Bahn kennt sich aus zwischen den Welten. Die mal aus grünem Wald und dann wieder aus schroffem Fels bestehen. In denen sich der Bernina Express auf den Viadukten über bis zu 100 Meter tiefe Schluchten bewegt, um dann geradewegs ins Felsmassiv einzutauchen. Wo sich der Zug bis zur Orientierungslosigkeit um die Berge windet, um die Steigung irgendwie zu bewältigen. Wo man auch mal mitten in einer Kuhherde steht – Heidi lässt grüßen –, wenn man auf einen entgegenkommenden Zug warten muss, dem man nur an bestimmten Punkten der ansonsten eingleisigen Trasse aus dem Weg gehen kann.

Es mutet unglaublich an, dass diese Strecke mit all ihren Brücken, Viadukten, Tunneln und Galerien schon vor 100 Jahren in die Schweizer Alpen gebaut wurde – und man es heute kaum anders machen würde. Ein Meisterwerk, das die Touristen aus aller Welt anlockt.

Christoph Benz ist es gewohnt. Ja, und manchmal geht es ihm ziemlich auf die Nerven. Ständig dieselben Ansagen für die Touris, die auch er viel zu oft vorne im Führerstand mitbekommt. „In Fahrtrichtung links sehen Sie dies und das, in Fahrtrichtung rechts zehn Minuten später wieder was anderes“, intoniert Benz ironisch. Die Tatsache, dass alles nicht nur auf Deutsch, sondern zudem auf Englisch und Italienisch durchgesagt wird, macht es dann an solchen Tagen richtig anstrengend. „Manchmal ist es nur ein Job. Das geht doch jedem so, oder?“ Es klingt fast nach einer Entschuldigung.

Oft ist er aber stolz auf Heimat und Arbeit und grüßt freundlich in die unzähligen Foto- und Videokameras besagter Touristen, die den Express in den Bahnhöfen erwarten oder auf den Straßen, die der Zug zwischen Poschiavo und Tirano immer mal wieder nutzt, ablichten. So oder so dürfte Christoph Benz einer der meist fotografiertesten Menschen Graubündens sein. Erst recht seit 2008, als es der Bernina Express auf die Weltkulturerbeliste der Unesco schaffte. Jetzt kommen auch Eisenbahn-Begeisterte aus Fernost nach Graubünden. Ganze Waggons, die doch auch Berufspendler von Tal zu Tal transportieren, sind für die Asiaten reserviert. Christoph Benz fürchtet es schon: „Bald wird es die Durchsagen auch auf Japanisch und Chinesisch geben.“

Für den Moment müssen die Ostasiaten zumindest englisch beherrschen – tun sie aber auch, interpretiert man die vielen „Aaahhs“ richtig, die sich an jede Durchsage anschließen und für ein bisschen Abwechslung unter den andauernden „Ooohhs“ sorgen, passiert der Bernina Express eine außergewöhnliche Stelle der Graubündner Bergwelt. Von denen es eben eine ganze Menge gibt. Ansonsten versteht man gar nichts. Manchmal glaubt man, eine „Heidi“ oder ein „Muh“ herauszuhören. Ja, es scheint das Paradies zu sein: der Bernina Express im Heidi-Land. Traumhaft schön ist es in jedem Fall.

Und abwechslungsreich. „Der Bernina Express ist immer ein besonderes Motiv“, findet auch Andrea Badrutt. Wie oft er den Zug auf seinem Weg durch die Alpen schon aufgenommen hat?

Schweiz

Anreise: Mit Germanwings

0900/1 91 91 00

www.germanwings.com

ab Köln/Bonn oder mit

Swiss Air

0180/3 00 03 37

www.swiss.com

ab Düsseldorf nach Zürich. Von dort weiter mit dem Zug ab Chur.

Kontakt: Graubünden Ferien,

0041/8 12 54 24 24

www.graubuenden.ch

Rhätische Bahn

0041/8 12 88 61 04

www.rhb.ch

Unzählige Male. An den Gleisen, aus dem Wald, zu Lande, zu Wasser – und vom Felsvorsprung aus, gut 200 Meter über einem dieser weltbekannten Viadukte, nach antikem Vorbild gebaute Brücken, die Täler und Schluchten überwinden. Warum nur hat er das Seil nicht mitgenommen? Er, der Bergsteiger? Nur gut, dass selbst in dieser Abgeschiedenheit sein Handy ein Netz gefunden hat. Er tut sich schwer, es zu benutzen. Er weiß, was auf ihn zukommt. Schließlich drückt er doch die Ruftasten...

„Ich hab’ mich echt retten lassen. Meine beiden Kumpel lachen mich heute noch aus. Bei jeder Gelegenheit kriege ich das aufs Brot geschmiert.” Andrea Badrutt muss heute selbst lachen. „Ich bin lieber auf Nummer sicher gegangen, es war halt doch steil. Jetzt muss ich eben damit leben.” Aber die Aktion war trotzdem ein großer Erfolg. Das Foto – ein Volltreffer.