Weltnaturerbe Wattenmeer: Die matschige Ödnis des Nordsee-Grunds entpuppt sich als spannender Lebensraum

Das Meer ist mal wieder weg, Wasser zum Baden gibt es nicht. Es ist Ebbe – etwa zwei Kilometer hat sich die Nordsee vor dem Ort Schillig zurückgezogen und eine matschige Ödnis hinterlassen. Doch traurig ist niemand. Mit Keschern und Eimern warten wir auf Wolfgang Kokoska. Mit dem Wattführer aus Wangerland wollen wir uns aufmachen, um ein Naturwunder zu erforschen, das in einer Reihe mit Great Barrier Reef in Australien, dem Grand Canyon in den USA, dem Kilimandscharo in Afrika und den Galapagos-Inseln im Pazifischen Ozean steht.

Seit Juni 2009 darf sich das Wattenmeer mit dem Titel Unesco-Weltnaturerbe schmücken. Der rund 400 Kilometer lange Küstenstreifen von den Niederlanden bis an die Grenze Dänemarks bietet viele verschiedene Lebensräume und damit ein Zuhause für rund 10 000 Arten – von einzelligen Organismen bis hin zu Würmern und Muscheln, Fischen, Vögeln und Säugetieren. Eine typische Spezies ist der Wattwurm. Als wir die Dünen hinter uns gelassen haben, fallen seine kleinen geringelten Häufchen als erstes auf – Sandspaghetti, die er unter großer Gefahr produziert.

Er muss dazu nämlich sein Hinterteil aus dem Schlick strecken, „der gefährlichste Augenblick im Leben eines Wattwurms”, so der 72-jährige Kokoska. Denn Seevögel bemerken häufig das Schwanzende des einem dicken Regenwurm ähnelnden Tiers.

„Gibt es auch Sandklaffmuscheln?” will ein kleiner Wanderer wissen. Große, leere Schalen liegen in Mengen herum, die Tiere leben aber tief im Schlick. „Da ihr Grabfuß verkümmert ist, können sie sich selbst nicht wieder einbuddeln, wenn sie einmal ausgegraben wurden”, erklärt Wolfgang Kokoska und lässt sie drin. Herzmuscheln, Pfeffermuscheln oder Miesmuscheln – jeden Augenblick hält ihm ein Kind eine Schale zur Bestimmung vor die Nase. Zudem wird gemeinsam eine Qualle untersucht und ein Krebs begutachtet.

Das kulinarische Angebot des Wattenmeers schätzen auch Zugvögel: Jedes Jahr legen 10 bis 12 Millionen Vögel auf ihrer Durchreise von und zu ihren Überwinterungsquartieren an der Nordsee einen Zwischenstopp ein. Nur hier finden sie genug Nahrung, um die Tausende von Kilometern langen Reisen machen zu können. Deshalb steht die Region als „Nationalpark Wattenmeer” schon seit Jahrzehnten unter Schutz. So hat die Unesco-Auszeichnung vor Ort in der Praxis nicht viel verändert. „Die Gesetze des Nationalparks sind strenger als die des Welterbes”, so Kokoska.

Dennoch sind mit dem Unesco-Titel Auflagen verbunden. Zum Beispiel die Entwicklung eines nachhaltigen Tourismuskonzepts. „Wir sind dabei, länderübergreifend entsprechende Strukturen aufzubauen”, erläutert Oliver Melchert, Geschäftsführer der Nordsee GmbH. Sie ist ein Zusammenschluss von 22 Urlaubsdestinationen: sieben Ostfriesischen Inseln und 15 Küstenorten am niedersächsischen Abschnitt des Wattenmeers. Schon im Jahr eins des Welterbe-Status seien die Urlauberanfragen – auch aus dem Ausland – deutlich gestiegen. „Ziel ist es, das Weltnaturerbe Wattenmeer weiter bekannt zu machen und in den Köpfen und Herzen der Menschen der Region zu verankern”, so Peter Südbeck, Leiter der Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer.

Zu erklären und zu erleben gibt es genug: Wattführer Kokoska gelingt es, während der zweistündigen Wanderung nicht nur Ebbe und Flut verständlich zu machen. Wir sind mittlerweile knapp zwei Kilometer vom Strand entfernt – und es wird gefährlich: Der „Stiefeltod” wartet kurz vor den sanft in den Prielen plätschernden Wellen der Nordsee. Knietief sinkt mancher in den Schlick ein, der wegen einer braunen Kieselalgenschicht extra schmierig ist. Tja, soll ja sehr gesund sein – und wir sind sowieso allesamt ohne Schuhwerk unterwegs: Also, ab in den Matsch!

Dann heißt es umkehren: Zur Insel Wangerooge dürfen Wattwanderer nicht hinüber laufen, Seehunde könnten gestört werden. Während einer Tide schafft man es aber hinüber zur unbewohnten Vogelschutzinsel Minsener Oog. Die Landschaft ändert ständig ihr Gesicht, so Kokoska: „Eine stetige Nordwestströmung hat dafür gesorgt, dass Wangerooge in den letzten 300 Jahren um zweieinhalb Kilometer nach Osten gewandert ist.”

Das Nordseeheilbad Horumersiel-Schillig verdankt seinen kleinen Dünenstreifen einer großen Baumaßnahme: In den 1970er-Jahren wurde die Jadefahrrinne ausgebaggert. Der Aushub – feiner Muschelsand – landete unter anderem vor Schillig.

Damit ist der Badeort konkurrenzfähig gegenüber den Ostfriesischen Inseln. Gerade Familien brauchen keine kilometerlangen Strände, sondern sind mit Badebuchten und Spielplätzen zufrieden. Zudem punktet das Wangerland nordöstlich von Jever mit der „Maritimen Meile” in Wilhelmshaven oder mit dem Deutschen Marinemuseum, einem Aquarium und dem Wattenmeerhaus.

Mit beklecksten Hosen und vollen Keschern wenden wir dem Watt den Rücken. Kokoska findet die richtige Mischung aus Information und Seemannsgarn – etwa, wenn er von gefährlichen Nebelbänken erzählt, die in Sekundenschnelle aufziehen und jede Orientierung unmöglich machen. Sein Tipp: „Falls ihr euch trotzdem im Watt verirrt, orientiert euch an den Grünalgen”. Die Pflanzen halten sich an den Muscheln fest und zeigen die Richtung an, in die sich das Meer zurückgezogen hat. Also, von Grünalge zu Grünalge marschieren und sie als Kompass benutzen – oder sich einem Wattführer anvertrauen.