Bei Ebbe schlägt auf der Nordseeinsel Pellworm die Stunde des Hobby-Archäologen Helmut Bahnsen – und seiner Geschichten

Mit wachen Augen sucht Helmut Bahnsen das Watt ab. Vorsichtig und überlegt setzt er mit den Gummistiefeln einen Schritt vor den anderen. Ein strammer Wind weht über unzählige Muschelschalen, Wattschnecken ziehen Spuren ins nasse Braun. Die Sonne spiegelt sich im letzten Rest Wasser, das die Ebbe gerade mit sich hinaus reißt. Im Hintergrund schiebt sich ein mächtiger grüner Deich als Inselkante ins Bild. Dann bückt sich Bahnsen und fischt etwas aus dem Dreck. „Dat heff ich mi doch dacht”, sagt er und unterzieht das Stück noch einmal einem prüfenden Blick. „Jo, dat is een Stück Schädel.”

Der Bahnsen, wie ihn die Leute auf Pellworm nennen, ist einer, der in einfachen Sätzen redet, nicht an die Klimaerwärmung glaubt, sein kleines Haus, das nach dem Krieg mal die Inselgrundschule war, über alles liebt und Gartenarbeit hasst wie die Pest. Lieber sammelt der 68-Jährige in seiner Freizeit auf, was die Nordsee und ihre Sturmfluten vor langer Zeit von der Insel rissen: Keramikscherben aus den Jahren um 1362, Weinbuddeln und Töpfe aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, 250 Jahre alte Knochen und Geschirr. Fast eine Million Teile hat Bahnsen in 39 Jahren im Watt vor Tammwarft und dem Bupheverkoog aufgelesen. Zu sehen ist alles in einem kleinen Privatmuseum neben dem Wohnhaus in der Westerschütting, wo der Mann mit den blauen Augen und der Knubbelnase mit Frau Rita wohnt.

Im Museum, der Anfang der 80er Jahre umgebauten Sommerlaube, landet nun auch das neue Stück Schädel. Im Frühling und Sommer kommen beinah täglich Radfahrer auf einen Sprung hinein und werfen einen Blick auf die randvoll mit Scherben gefüllten Holztruhen und auf die in mühsamer Kleinarbeit wieder zusammengeklebten Krüge und Teller, die in selbst gezimmerten Regalen ohne erkennbare Ordnung nebeneinander stehen. Bahnsen erzählt dann bereitwillig wie alles anfing an jenem Sommertag im Juli 1971, als er seine erste Scherbe fand.

INFO

Anreise: Mit der Bahn bis Husum, dann mit dem Bus weiter bis Nordstrand. Ab hier setzt die Fähre nach Pellworm über.

Angebot: Sieben Nächte in einer Drei-Sterne-Ferienwohnung inklusive Leihfahrrad und Besuch der Saunalandschaft ab 670 Euro für zwei Personen. Buchbar bei der Tourist Information.

Kontakt: Tourist Information Pellworm, 04844/1 89 40, www.pellworm.de

Die Termine für Wattwanderungen mit Helmut Bahnsen sind online unter Veranstaltungen einsehbar. Preis: fünf Euro.

Damals schmerzten Rücken und Hände noch nicht, und der Hobby-Archäologe holte Miesmuscheln für zwei Urlauber, die er und seine Frau für ein paar Mark bei sich im Schlafzimmer einquartiert hatten. Die Sonne schien und es war eigentlich viel zu heiß, um im Watt Abendessen zu suchen. Als er einen Stein zur Seite schob, weil er darunter eine Muschel vermutete, lag da plötzlich etwas, was der junge Bahnsen noch nie zuvor im Watt gesehen hatte. Er nahm es mit, bürstete es sauber, und abends wurde zu einem Bier in der Küche mit den Gästen überlegt, was das sein könnte.

Von früher erzählt Bahnsen gerne. Nur, wenn ihn ein Besucher nach den Kosten für das Museum fragt, kippt die Stimmung. „Bloß keen Ärger”, sagt er dann und schaut sich kurz mal um.

„Bloß keen Ärger” heißt übersetzt soviel wie, dass Bahnsen ständig das Gefühl hat, ihm säße das Archäologische Landesamt Schleswig-Holstein im Nacken. Das hat ihm schon vor mehr als 25 Jahren verboten im Watt zu Graben, ihm aber gleichzeitig erlaubt, weiter zu sammeln. Einmal im Jahr kommen einige Herren vom Amt vorbei und schauen sich an, was Bahnsen alles Neues entdeckt hat.

Für den Rentner, der Ruhe über alles schätzt, bedeutet das schon Monate im Voraus den totalen Stress. Denen vom Festland traut er ohnehin keinen Meter. Und da für ihn das Landesamt einer politischen Institution gleichkommt, sind die Herren, die da einmal im Jahr mit der Fähre kommen, beinah schon mitverantwortlich für seine viel zu kleine Rente.

Um die versaute, mühsam erarbeitete Altervorsorge aufzubessern, geht Bahnsen mit Touristen ins Watt. Dann bekommt er morgens einen Anruf von der Tourist-Information, sieht auf den Tidenkalender und nennt Uhrzeit und Treffpunkt für die Tour. Wenn es dann soweit ist, gibt er seiner Rita ein Küsschen, schnappt sich die Autoschlüssel, knallt die Tür, und ist raus.

Fünf Euro zahlt jeder Urlauber für die kulturhistorische Führung auf dem Nordseegrund – gut angelegtes Geld. Zwar gibt es außer ein paar unscheinbaren Schlickhaufen nicht wirklich viel zu sehen. Doch macht Bahnsen die Tour ungewollt zum Erlebnis. Erzählt er doch ganz nebenbei von den Holländischen Trawlern, die den Pellwormern einst die ganzen Miesmuscheln vor der Nase weg fingen und von den Prügeleien zwischen Bauern und Krabbenfischern. Und natürlich kommt der Mann mit dem etwas dicklichen Bauch in Fahrt, wenn er zu den Geschichten kommt, die Städter unbedingt hören wollen. Geschichten von Sturmfluten und Riesenwellen, die so plötzlich anrollten, dass man als Urlauber froh ist, wenn man wieder hinter dem Deich ist. Einige Inselbewohner nennen den Bahnsen wegen seiner vielen Märchen „spökenkiekerisch” – einer der viel erzählt, wenn der Tag lang genug ist.

Nach der Tour bleibt Bahnsen oft noch eine Weile allein im Watt. Dann steht er regungslos da, die Hände in den Taschen und hängt seinen Gedanken nach. Dann kommen ihm die Bilder seiner Zeit als Krabbenfischer. Gleich nach der Schule, mit 15 Jahren, heuerte er an. Auf einem dieser Kutter, von denen immer wieder einige nicht zurückkamen. Wenn er so alleine da steht, wirkt es, als würden alle Fahrten und Schlachten auf der Nordsee noch einmal an ihm vorbeiziehen, bis zu jenem Tag 1965, als der Rücken zum ersten mal so sehr schmerzte, dass es schon im Alter von 24 vorbei war mit dem Traumberuf. Doch vielleicht war es auch sein großes Glück. Machten doch Ende der 70er fast alle Fischer Pleite. Und wer sich einen Kredit für einen eigenen Pott besorgt hatte, saß auf einem Haufen Schulden.

Auf Arbeitslosigkeit folgten Gelegenheitsjobs, sogar aufs Festland verschlug es den Bahnsen mal für drei Monate. „Aber dat is nix für Helmut”, sagt er. Nach einigen schmerzhaften Versuchen, doch noch einmal auf See sein Geld zu verdienen, landete er nicht gerade glücklich beim Küstenschutz. Dort blieb er bis zur Frührente 1998.

Fragt man Helmut Bahnsen, was er mit auf eine einsame Insel nehmen würde, lacht er kurz als wolle er sagen: „Mensch. Was anderes kann ich mir doch sowieso nicht vorstellen.” Doch dann kommt es wie aus der Pistole geschossen: seine Rita und seinen Fotoapparat, um alles, was er dort finden würde, zu dokumentieren.