Wer denkt, er könne Ski fahren, soll es mal in Andermatt im Tiefschnee versuchen

Wer Himmel ist blau, die Sonne scheint auf schneebedeckte Hänge. Ein Tag wie aus einem Werbeprospekt in Andermatt am Gotthard. Ich kann einigermaßen Ski fahren, aber heute könnte ich mich blamieren, verletzen, vielleicht sogar verschüttet werden. Denn ich werde das Terrain verlassen, auf dem ich mich auskenne und das machen, was man heutzutage Freeride nennt: Abseits der Piste im Tiefschnee fahren.

„Respekt ist wichtig, Angst ist schädlich”, sagt Sepp Dahinden, Chef der Schneesportschule Andermatt, ein Skilehrer, wie man ihn sich vorstellt, kernig, braun gebrannt, verspiegelte Brille. Er soll es mir beibringen, das Freeriden.

Sonnig, null Grad Celsius, Sicht gut, Lawinenstufe zwei – mäßig. Auslösung durch große Gruppen an einzelnen Steilhängen möglich.

Wir steigen aus dem Sessellift, ich blicke auf meine Ski, breit und lang. Spezielle Freeride-Latten.

Vor uns liegt ein kaum geneigter Hang, frisch präpariert. „Hier müssen wir zuerst runter – der Tiefschnee wartet dahinten.” Sepp fährt los, ich hinter her. Als ich meinen zweiten Bogen fahren will, rutscht mir der Innenski weg – und ich knalle auf den Boden. Sturz auf einer Strecke, die das Gefälle eines Fußballplatzes hat, peinlicher geht es nicht.

Sepp hat angehalten, ich kann seine Gedanken lesen. „Was habe ich mir mit diesem Typen eingebrockt? Aber er sagt nur: „Die Jacke machen wir jetzt besser mal ganz zu.”

Die nächsten 500 Meter fahre ich mit weichen Knien, dann stehen wir vor einem Tiefschnee-Hang. Steil ist er nicht, aber der Wind hat Schnee in den Hang geweht, so dass da jetzt eine unberührte weiße Decke liegt, etwa eine Hand hoch. Sepp fährt vor und zeichnet eine schöne S-Kurve nach der anderen. Unten bleibt er stehen und ruft: „Jetzt du!” Mir wird heiß unter meinem Helm, so eine Blamage wie eben will ich mir unbedingt ersparen. Ich stoße mich ab, mache vorsichtig einen Linksschwung, dann einen Rechtsschwung, meine Ski schweben auf dem Schnee, der seitlich weg stiebt. Ein Moment des Glücks.

Als ich neben Sepp stehe, lächelt er. „Guck dir an, was für eine schöne Spur du in den Schnee gezeichnet hast!” Ich grinse stolz. Nur wird es leider das letzte Mal sein, dass ich mich so freuen kann. Im Tal sagt Sepp: „Eigentlich sind diesen Freeride-Ski eine Mogelpackung, da sieht man Leute neben der Piste fahren, die das sonst nie hinbekommen würden.”

Für den Nachmittag will er die Schwierigkeitsstufe erhöhen. Ziel: Der Gemsstock, 2963 Meter hoch, zwei präparierte Abfahrten vom Gipfel – und Platz für 20 Varianten im tiefen Schnee. Der Berg macht Andermatt zu einem Mekka der Freerider aus aller Welt.

Höhere Schwierigkeit heißt auch gefährlicher. Sepp reicht mir einen Rucksack. Inhalt: zwei Airbag à 75 Liter. „Des braucht's, um einen Menschen in einer Lawine oben zu halten”, sagt er.

Schneefall, minus zwei Grad Celsius, Sturmböen, Sicht unter 50 Meter, Lawinenstufe drei – erheblich. Auslösung durch Einzelpersonen an einzelnen Steilhängen möglich.

In den Ecken der Gondel stehen Betonblöcke, damit der Wind sie nicht aus dem Gleichgewicht bringt. Man kann kaum von einem bis zum nächsten Pfeiler der Seilbahn sehen. Dann Schemen der Bergstation. Für Sekunden dringt gedämpfter Sonnenschein durch den Nebel, gibt den Blick frei auf schroffe Felsen zwischen die der Wind mächtige Schneeberge geweht hat. Sepp zeigt auf einen nahezu senkrechten Hang, der durch ein Absperrband von uns getrennt ist und brüllt gegen das Windgeheul an: „Da geht´s runter.”

Jetzt ist er komplett wahnsinnig geworden. „Da fahren wir runter?” Dann reicht mir Sepp ein Täschchen mit Tragegurt, darin ein Gerät von der Größe eines Taschenkalenders, ein Peilsender. Falls ich von einer Lawine verschüttet werden sollte, könnte er mich damit orten. Sepp dreht an einem Rädchen. Dann Rauschen, wie beim Suchen eines Radiosenders, dann ein Piepsen im Nebel. Sepp macht den Rucksack mit den Airbags klar. „Aber 100-prozentige Sicherheit gibt es nicht”, sagt Sepp. Der Steilhang liegt vor uns, der Schnee knietief und schwer. Es ist unglaublich anstrengend. Schon beim ersten Schwung komme ich kaum um die Kurve gerate in Rücklage, was beim Skifahren immer Kontrollverlust bedeutet. Ich sehe etwas Weißes auf mich zurasen – dann wird es schwarz. Mein Kopf taucht in den Schnee, ich überschlage mich. Stille. Ich liege im Hang, bewege Arme und Beine. Es tut nichts weh, nur Jacke, Helm und Brille sind voller Schnee.

Ich rutsche ein paar Meter abwärts zu Sepp. „Das kommt vor”, sagt er. „Was meinst du, wie oft ich mich schon gewickelt habe?” Ich bin dankbar für den Trost – und dafür, dass er weiter redet, während ich mich von Schnee befreie und verschnaufe. Er zeigt auf Andermatt, das vor uns im Tal liegt, ein Dorf mit drei Kirchen, 1 300 Einwohnern, 1 700 Fremdenbetten. Daneben ein freies Feld, ehemaliges Militärgelände. Hier soll das neue Andermatt entstehen, ein ägyptischer Milliardär will hier ein Luxusresort mit 3 000 Fremdenbetten, Shopping Mall und Golfplatz bauen. Sepp ist dafür, er fürchtet, dass der Tourismus sonst keine Zukunft hat. Ich quäle mich den Hang herunter, es muss furchtbar aussehen. Feierabend.

Minus ein Grad Celsius, 50 Zentimeter Neuschnee, Sicht zehn Meter, Lawinenstufe vier – hoch, Auslösung durch Einzelpersonen in vielen Hängen möglich.

Andermatt

Anreise: Andermatt erreicht man mit dem Auto über Luzern, für die letzten acht Kilometer muss die Autobahn verlassen werden. Ab Essen benötigt man rund sieben Stunden.

Veranstalter: Bei Andermatt Tourismus ist eine sechstägige Freeride-Pauschale ab umgerechnet 1455 Euro buchbar – inklusive Bergführer, Übernachtung und Skipass.

Besonderheiten: Kurse und Bergführer kann man bei der Schneesportschule Andermatt

0041/ (0)41/ 887 12 40

www.skischuleandermatt.ch

buchen. Passende Ausrüstung gibt es in örtlichen Fachgeschäften im Verleih. Der Gemsstock stellt den Skibetrieb am 1. Mai 2010 ein.

Kontakt: Andermatt Tourismus

0041/(0)41/8 88 71 00

www.andermatt.ch

Am nächsten Morgen schneit es, Sepp hat keine Zeit, ich treffe mich an der Gemsstockbahn mit meiner neuen Skilehrerin Lara, 29, rote Haare, eine ehemalige Kaderfahrerin. Prima, jetzt werde ich mich auch noch vor einer Frau blamieren. Der Mann, der die Gondel fährt, grinst Lara an. Dann sagt er zu mir: „Da hast du dir aber eine strenge Lehrerin ausgesucht.”

Auf dem Gipfel ist die Sicht heute noch schlechter, dazu Neuschnee. Lara schaut sich an, wie ich den Berg hinunter ächze. „Viel hast da ja gestern beim Sepp nicht gelernt”, sagt sie. „Man sieht ja auch gar nichts”, verteidige ich mich. „Zum Fahren hat man ja die Beine”, sagt sie.

An einigen Stellen bleibt sie stehen und blickt ins Gelände abseits der Piste, immer wieder schüttelt sie den Kopf, „zu gefährlich”. Ich sehe, wie sie dazu denkt: „mit dir”. Lara stellt fest, dass meine Art zu schwingen, nicht geeignet ist für tiefen Schnee. Sie versucht mir auf der Piste einen anderen Schwung beizubringen. Während der Mittagspause malt sie mir Kurven und ein Pendel ins Notizbuch. Ich bin frustriert. Ich kam, um Tiefschneefahren zu lernen, jetzt habe ich das Gefühl, dass ich auch auf der Piste nicht fahren kann. Dann verabschiedet sich Lara.

Ich mache Pause. Auf der anderen Seite sehe ich einen Punkt, allein auf einem weiten Hang. Links, rechts, links, ein Mensch tanzt durch den staubenden Tiefschnee. Das muss Freeriding sein. Ich komme wieder.