1500 Kilometer Atlantik trennen die Inselgruppe vom portugiesischen Festland. Besuch in einer abgeschiedenen Welt
Überall baumeln bunte Wimpeln und Flaggen aus den Bahamas, Südafrika und Norwegen von der Decke. Neben Landkarten und Wetterberichten hängen vollgekritzelte Zettel von Skippern aus, die auf der Suche nach neuen Jobs oder Mitseglern sind. Sie verhüllen die alte Holztäfelung der Wände in einer der legendärsten Hafenkneipen der Welt. Junge, braun gebrannte Burschen mit Bärten und zerrissenen Jeans stehen flirtend an der Theke. Sie alle holen sich hier einen Stempel für ihren Pass ab.
„Peter Café Sport” ist eine wahre Institution in Horta. Jeden Frühling und Sommer ankern in dem weltberühmten Yachthafen auf der grünen Azoreninsel Failal tausende segelnder Atlantik-Überquerer, auf ihrem Weg in die Karibik oder zurück in die europäische Heimat. Die Kneipe ist Kontaktbörse, Bar, Restaurant – und Poststelle zugleich. „Segler und Angehörige schicken uns Briefe von überall auf der Welt. Wir bewahren sie kostenlos auf, bis sie vom Empfänger abgeholt werden”, erzählt José Henrique Azevedo und präsentiert die Post-Schublade, die überquillt mit hunderten von Briefen voller Sehnsucht. Sein Urgroßvater verkaufte bereits im Jahre 1901 Drinks an die Segler. 1918 gründete Josés Vater Peter dann die Kultkneipe – aber mehr als das: „Er half den ankommenden Booten mit Reparaturen, vermittelte zwischen Kapitänen und dem Hafenmeister.” Im ersten Stock des Cafés ist das einzige „Scrimshaw”-Museum der Welt: Seit Jahrzehnten sammelt die Familie Azevedo Walzähne, in die alte Seeleute filigrane Portraits von unbekannten Schönheiten graviert haben.
Bis 1987 wurden auf den neun Vulkaninseln im Nordatlantik noch hunderte von Walen getötet. Heute wird dies streng überwacht und an die Stelle der Walfänger sind Walbeobachter und Biologen getreten. „In der Hochsaison – April bis September – können wir bis zu 24 verschiedene Wal- und Delfinarten zählen”, weiß Biologin Carla Coutinho. Die junge Portugiesin erzählt enthusiastisch von den Pottwalen, Walhaien und riesigen Schwärmen von atlantischen Fleckendelfinen, nach denen sie vor einer Whale-Watching-Tour aus den Vigias (alte Beobachtungstürme der Walfänger) mit dem Fernglas Ausschau hält. „Es ist wie auf einer Autobahn, wenn die großen Wale im Sommer für eine kurze Rast auf den Azoren Halt machen”, sagt sie und lächelt. Mit Touristen, die keine Scheu vor Delfinen haben, fährt sie mit ihrem Team von von Ponta Delgada, der Hauptstadt der Azoren, raus aufs offene Meer zum Schwimmen mit den friedlichen Meeressäugern. Ihre Augen leuchten: „Du wirst besessen von den Tieren, wenn sie unter Wasser direkt unter dir anhalten und dich anschauen.” Doch sie zu berühren, ist verboten, macht die engagierte Carla klar. Die Delfine sollen selbst entscheiden, ob sie in Interaktion mit Menschen treten wollen.
Seit zwölf Jahren lebt die 31-Jährige bereits auf den Azoren, über 1500 Kilometer von ihrer Heimat – „dem stressigen Lissabon” – entfernt. Doch missen tut sie auf dem abgeschiedenen Archipel mit den glänzend blauen Kraterseen, knallgrünen Wiesen und Feldern, die von tausenden pastellblauer Hortensienbüschen begrenzt werden, nichts. Nur der Konservatismus der Azorianer sei etwas gewöhnungsbedürftig. „Die alten Werte zählen hier noch viel”, pflichtet ihr ihr Kollege, Paulo Pacheco, bei. „Meine Familie ist sehr religiös. Erst nach der Hochzeit darf ein Paar zusammen leben”, erklärt der 29-Jährige. Doch auch der strenge Glaube der Insulaner macht den Charme der Azoren aus: Auf dem Eiland Terceira wird im Sommer oft und kräftig gefeiert. Im Mittelpunkt der „Festas do Espirito Santo” (Heiliggeistfeste) von April bis September stehen kleine, an Kapellen erinnernde Tempel – die Impérios. Auf Terceira gibt es 70 dieser bunt bemalten Heiliggeisttempel mit ihren Blumen- und süßem Brot geschmückten Altaren.
Die Azorianer öffnen gern die Türen für interessierte Touristen. In dem Dorf Terra Chã, nahe der Stadt Angra do Heroismo (Unesco-Weltkulturerbe), betritt gerade Maria Juam, ganz in schwarz gekleidet, den Império. In der Hand trägt sie eine Figur aus Baiser mit Zuckerguss. „Es ist eine Spende für den Heiligen Geist”, erklärt die Witwe in perfektem Englisch – sie ist eine von vielen Immigranten, die nach Kanada auswandern und mit ihrer Rente zurück in die geliebte Heimat kommen.
244 000 Menschen leben auf den Azoren, aber knapp eine Million im Ausland. Ihre Spende wird von der Gemeinde vermerkt, später dann ein Bauernkaiser unter allen „Sponsoren” auserwählt und gekrönt. „Traditionell gibt es nach der Messe eine Armenspeisung, bei der das ganze Dorf zusammen feiert und die Heiliggeistsuppe mit Maisbrot isst”, erklärt Maria Juam. An das Fest schließen sich in den Dörfern auf Terceira die Tage der „Touradas à corda” – Stiertreiben am Seil – an, eine Ehrensache für die Männer der Insel. Vor der Ehe muss ein Mann einmal bei einem Stiertreiben (nichts für Tierfreunde) in den Straßen mitgemacht haben, dann sind ihm viele Mädchen zugetan – so der Aberglaube.
Die Azorianer leben von ihren alten Bräuchen, Feiern – und ihrer grandiosen, vulkanisch aktiven Natur: „Unsere Inseln sind ein natürliches Labor”, sagt Biologe Rui Amen voller Stolz im Tal von Furnas auf São Miguel, einem grünen Garten im Kessel eines Vulkankraters, durch den heiße Bäche fließen. Auf den Azoren existieren 56 Pflanzenarten, die nirgendwo sonst anzutreffen sind. Ein „Open Air-Gewächshaus” nennt Amen das Tal. Hier liegt auch der romantische Botanische Garten Terra Nostra, in dem exotische Spezies aus den Tropen neben Pflanzen aus kühleren Regionen wachsen. Urlauber können sich in dem größten Thermalbecken der Welt (38 Grad warm) entspannen. Das aufgrund des Eisengehalts braungelb gefärbte, vulkanische Wasser in dem Teich soll Falten glätten.
Schwefelige Dunstschwaden ziehen in der Nähe des Parks durch die Luft. Die kochend heißen Quelltöpfe der Caldeiras brodeln. 28 unterschiedlich stark mineralhaltige Heilwasser sprudeln in den Brunnen. „Einheimische kommen hierher, wenn sie etwa Probleme mit dem Magen haben und füllen sich Container ab”, erläutert der Biologe. Danach geht es rüber zum Lagoa das Furnas. An den Ufern dieses Kratersees kochen die Azorianer in heißen Erdlöchern ihren beliebten Cozido – einen Eintopf aus Blutwurst, Rind, Schwein, Huhn, Kohl und Kartoffeln. Und wieder heißt es „Vamos festejar!” mit der Familie, während der Eintopf sieben Stunden in der Vulkanquelle gart.
Lange Zeit ein Ziel eher für Individualisten, sind die Atlantikinseln auf dem Weg zur Trenddestination. Unter den ausländischen Gästen stellen die Deutschen mit über 15 000 pro Jahr die größte Gruppe. Die Unterkünfte werden komfortabler, mittlerweile gibt es knapp 10 000 Gästebetten auf dem Archipel – von Bauernhäusern bis zu Designhotels wie der ehemaligen Hafenfestung „Pousada de Angra do Heroismo”. „Geplant sind 15 000 Betten bis nächstes Jahr”, weiß Eduardo Elias da Silva vom Regionalen Fremdenverkehrsamt.
Seit diesem Sommer hat auch TUI die Azoren wieder in ihrem Programm, als Mietwagen- und als geführte Rundreise in ihrem Weltentdecker-Katalog „Mediterran”. „Die Azoren sind ein typisches Ziel für eine Entdeckertour – um Land und Leute kennen zu lernen”, findet Oliver Müller-Dukat von TUI.
Das dachte sich auch die Neusserin Marianne Odendahl, die um die Welt gesegelt war, bevor sie vor drei Jahren hier landete. Die Meereswissenschaftlerin liebt die Ursprünglichkeit der Vulkaninseln und hat wohl auch schon im „Peter Café Sport” gesessen und die Sonne hinter Portugals höchstem Berg, dem majestätischen Pico, untergehen sehen.