London/Belfast/Donegal. Von der griechischen Antike nach Irland: Die Kraft der literarischen Kunst über Grenzen hinaus ist das Motto eines Festivals im Zeichen des Brexit.
Der nordwestliche Zipfel der irischen Insel, wo die wild-romantische Grafschaft Donegal an Nordirland stößt, ist ein Fleckchen Erde, an dem Besucher zwischen schneeweißen Atlantik-Stränden und verhangener Bergwelt den Alltag vergessen. Und dennoch ist die Erinnerung an Grenzkontrollen, Straßensperren und Gewalt allgegenwärtig. Nur einen kurzen Sprung über die Grenze, die heute nicht zu spüren ist, hinweg liegt die nordirische Stadt Derry/Londonderry, deren Name für 30 Jahre Blutvergießen des nordirischen Bürgerkriegs (Troubles) steht.
Der geplante Ausstieg Großbritanniens aus der EU im nächsten Frühjahr birgt Furcht und Unsicherheit für die Region: Die mit dem Karfreitagabkommen von 1998 mühsam erworbene Durchlässigkeit der Grenzen steht auf dem Spiel, wenn die grüne Grenze zwischen dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland und der Republik Irland zur EU-Außengrenze wird.
Verlangen nach Normalität
John McGroary, irischer Polizist im Ruhestand, erinnert sich gut an die Zeit, als die britische Armee tiefe Krater in Nebenstraßen in Grenznähe schlug, um sie unpassierbar zu machen. «Wir haben Angst vor neuen Grenzen», sagt McGroary, der eine Rückkehr zum Terrorismus durch extremistische Minderheiten für sicher hält. «Das wollen wir nicht», sagt er und verweist auf den rasanten Anstieg des internationalen Tourismus in Donegal seit dem Friedensabkommen.
Auch die Tatsache, dass sich Hundertausende von Nordiren in jüngster Zeit irische Pässe besorgt hätten, spreche für das Verlangen nach Normalität. «Mit Brexit kommt die ganze Frage nationaler Zugehörigkeit wieder auf den Tisch.»
Ganz im Zeichen des Brexits steht auch das diesjährige Literaturfestival «Arts Over Borders» (Kunst über die Grenzen) - von Derry/Londonderry bis Donegal. Mit Lesungen aus Homers Odyssee und der Ilias an Stränden beiderseits der Grenze werden die uralten Themen von Krieg und Gewalt, Heimat, Heimkehr, Flucht und Migration von der griechischen Antike an die Strände von Irland verpflanzt und nach Angaben der Organisatoren in einen «neuen Zusammenhang der Völkerverständigung» gestellt.
Orte malerischer Schönheit
«Er schwamm, bis ihn eine furchtbare Erschöpfung überkam. Er kroch an Land und küsste die lebensrettende Erde», liest die Schauspielerin Maxine Peake aus der viel gepriesenen neuen Übersetzung der Odyssee der britischen Altertumsforscherin Emily Wilson am Strand von Killahoey.
Die Lesungen in Strandzelten an Orten malerischer Schönheit werden von Aufführungen des irischen Dramatikers Brian Friel (1929-2015) ergänzt, dessen Werk wesentlich von Homer beeinflusst wurde. Kirchen-und Gemeindehallen in Friels küstennaher Heimatregion werden zur Bühne für Stücke wie «Der Wunderheiler» (Faith Healer) und das von Anton Tschechow inspirierte «The Yalta Game».
Festival- Direktor Sean Doran sieht eine enge Verbindung zwischen Homer und der «langen und beschwerlichen Reise» Irlands auf der Suche nach Frieden, Stabilität und Identität. «Die Kunst hat die Kraft, die Menschen zusammenzubringen», sagt Doran unter Hinweis darauf, dass rund 40 Prozent der Festival-Besucher aus der Republik Irland in den Norden kommen.
Lesungen unter der Augen schwer bewaffneter Polizisten
In der Grenzregion und in der Provinz Nordirland, wo im britischen EU- Referendum 56 Prozent der Wähler für den Verbleib in der EU stimmten, herrsche ein «Unterton der tiefen Verunsicherung», so Doran. «Die Leute sind nervös. Brexit ist für sie eine Realität, die das tägliche Leben betrifft.» Obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung den Erhalt des Friedens wünsche, bedürfe es nur eines geringen Anlasses für die Rückkehr zur Gewalt. «Mehr als je, und mehr als an manchem anderen Ort, ist es jetzt wichtig, vorwärts zu gehen und nicht zurück», sagte Doran der Deutschen Presse-Agentur.
Sehr deutlich wird diese Notwendigkeit auch in der nordirischen Stadt Londonderry, die von den Katholiken Derry genannt wird, und deren protestantische und katholische Wohngegenden strikt getrennt sind. Unter dem wachsamen Auge bewaffneter Polizisten in kugelsicheren Westen wurden auf den mittelalterlichen Festungsmauern besonders martialische Passagen aus Homers Ilias verlesen - ein Trojanisches Pferd aus Holz in Sichtweite. «Wer ewig und immer von Feinden redet, ist selbst der Feind», zitiert der Schauspieler Niall Cusack aus der Ilias.
Im Hintergrund tönt der Trommelwirbel einer gleichzeitig stattfindenden Parade der protestantischen «Apprentice Boys», während auf der anderen Seite der Friedensbrücke über den Fluss Foyle katholische Familien bei Straßenfesten irische Volkslieder singen und die irische Trikolore neben der blauen EU-Flagge hissen. (dpa)