Athen. Die Finanzkrise hat Athen verändert. Alles ist politisch. Auch Kaffee trinken. Ganz in der Nähe der Akropolis lockt eine neue Kulturszene.

Mit einem lauten Rasseln öffnet sich das mit Graffiti besprühte Stahltor. Die Kinder einer der Sinti- und Roma-Familien auf der anderen Straßenseite hier im Kerameikos-Viertel schauen neugierig herüber.

Wer in Athen das Viertel Kerameikos besucht, lernt die griechische Hauptstadt abseits der Touristenmagneten wie der Akropolis kennen - und lernt viel über die griechische Krise.
Wer in Athen das Viertel Kerameikos besucht, lernt die griechische Hauptstadt abseits der Touristenmagneten wie der Akropolis kennen - und lernt viel über die griechische Krise.

"Willkommen", sagt Zachos Varfis und deutet auf das Gelände hinter dem Tor: frisch gepflanzte Bäume und Sträucher, breite Holztische mit Bänken und dahinter, wie eine zu beiden Seiten schwungvoll nach oben gebogene Bühne, eine kleine Skate-Anlage. Die Skatebowl Latraac ist laut Zachos die erste Athens.

Zur Anlage gehört ein Café, von dem aus man die Skater beobachten kann. "Als wir hierher kamen", erzählt der Architekt mit dem schwarzen Lockenkopf und breitet die Arme aus, "war das alles eine einzige Ruine." Plötzlich macht es einen lauten Knall. Und noch einen. Zachos dreht sich um. Die Kinder von gegenüber hauen mit einem großen Stecken gegen das Stahltor und freuen sich über den Lärm und über die Aufmerksamkeit, die ihnen das beschert.

Kunst-Galerien und Cafés eröffnen

Zachos grinst sie schief an und schüttelt den Kopf. "Am Anfang haben wir versucht, die Nachbarschaft hier, viele Sinti-und-Roma-Familien, einzubeziehen, aber es hat nur so halb geklappt. Für sie bleiben wir Fremde mit einem merkwürdigen Hobby.

Die Gegend war lange nicht besonders entwickelt, aber inzwischen tut sich was: Kunst-Galerien und Cafés eröffnen. "Kein Wunder: die Miete ist niedrig, das Viertel mitten im Zentrum und es gibt eine Menge ungenutzten Platz", erklärt Zachos.

Kerameikos liegt nur 15 Minuten zu Fuß Richtung Norden von der Akropolis entfernt. Es geht vorbei an Hauswänden voller Graffiti. "All you need is joke" (Alles was du brauchst, ist ein Witz) steht unter dem aufgesprühten Porträt eines ernst blickenden Mädchens mit so verschmiertem Lippenstift, dass sie wie ein Clown aussieht. Auf der Leonidou-Straße ist heute Markt: Bauern preisen Orangen, Kartoffeln, Granatäpfel und Nüsse an. Eine Gasse weiter schaut eine Katzenfamilie aus den leeren Fenstern einer Ruine. Aus einem Plattenladen dröhnt laute Hip-Hop-Musik.

Erinnerungen an Berlin nach der Wende

Im BIOS, einem Kultur- und Musikzentrum mit einem schäbig-schicken Café, sitzen Hipster vor ihren Macbooks und trinken Kaffee Frappé. Ums Eck, mitten auf dem Bürgersteig, zieht ein Drogenabhängiger in grotesk verrenkter Körperhaltung mit einer Hand einen Gürtel am Oberschenkel fest und setzt sich mit der anderen Hand einen Schuss ins Bein. Hinter ihm leuchtet die Akropolis in der Sonne.

Athens Viertel Kerameikos

Costis Peikos mit Freunden im Restaurant
Costis Peikos mit Freunden im Restaurant "Laika" - er sorgt sich um die Menschen, die unter der Krise in Griechenland leiden.
Trendgetränk junger Athener: ein altmodischer Frappé.
Trendgetränk junger Athener: ein altmodischer Frappé.
Die Akropolis ist wohl die bekannteste Sehenswürdigkeit in Athen - Kerameikos liegt nur 15 Minuten entfernt.
Die Akropolis ist wohl die bekannteste Sehenswürdigkeit in Athen - Kerameikos liegt nur 15 Minuten entfernt.
Schwatzen im Café statt betrübt zu Hause sitzen: Die Athener müssen raus - trotz Krise, hier im Ble Papagalos.
Schwatzen im Café statt betrübt zu Hause sitzen: Die Athener müssen raus - trotz Krise, hier im Ble Papagalos.
 Das SNFCC ist Athens neues Kulturzentrum samt riesigem Park - ein öffentlicher Ort, der von Einheimischen wie Touristen geschätzt wird.
Das SNFCC ist Athens neues Kulturzentrum samt riesigem Park - ein öffentlicher Ort, der von Einheimischen wie Touristen geschätzt wird.
Das Athener Viertel Kerameikos ist heruntergekommen und bei jungen kreativen Griechen gerade sehr angesagt - Street Art gibt es an vielen Ecken zu sehen.
Das Athener Viertel Kerameikos ist heruntergekommen und bei jungen kreativen Griechen gerade sehr angesagt - Street Art gibt es an vielen Ecken zu sehen.
Lässige Atmosphäre, Live-DJs: Das BIOS, einen Kultur- und Musikzentrum mit Café, ist ein Epizentrum der Hipster in Athen.
Lässige Atmosphäre, Live-DJs: Das BIOS, einen Kultur- und Musikzentrum mit Café, ist ein Epizentrum der Hipster in Athen.
Graffiti in Kerameikos: «All you need is joke» (Alles was du brauchst, ist ein Witz).
Graffiti in Kerameikos: «All you need is joke» (Alles was du brauchst, ist ein Witz).
Politisches Graffiti im Viertel Kerameikos: In Athen ist die Krise Griechenlands offensichtlich.
Politisches Graffiti im Viertel Kerameikos: In Athen ist die Krise Griechenlands offensichtlich.
Ausblick vom neuen Kulturzentrum SNFCC auf Athen - eine Stadt wie ausgeschüttete Milch auf braunen Hügeln.
Ausblick vom neuen Kulturzentrum SNFCC auf Athen - eine Stadt wie ausgeschüttete Milch auf braunen Hügeln.
Graffiti in einem verlassenen Gebäude in Athen: Wo sich die Stadt zurückzieht, entsteht oft Street Art.
Graffiti in einem verlassenen Gebäude in Athen: Wo sich die Stadt zurückzieht, entsteht oft Street Art.
Zachos Varfis auf der unfertigen Skatebowl Latraac - heute ein wichtiger Anlaufpunkt im Viertel Kerameikos.
Zachos Varfis auf der unfertigen Skatebowl Latraac - heute ein wichtiger Anlaufpunkt im Viertel Kerameikos.
Wer in Athen das Viertel Kerameikos besucht, lernt die griechische Hauptstadt abseits der Touristenmagneten wie der Akropolis kennen - und lernt viel über die griechische Krise.
Wer in Athen das Viertel Kerameikos besucht, lernt die griechische Hauptstadt abseits der Touristenmagneten wie der Akropolis kennen - und lernt viel über die griechische Krise.
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Ein bisschen erinnern Kerameikos und angrenzende Viertel wie Gazi an Berlin nach der Wende in den 1990er Jahren. Künstler und Aktivisten bemächtigen sich der zerfallenen Stadt mit ihren leerstehenden Häusern. Sie nutzen die billigen Mieten und Grundstückspreise. Und bekommen Platz zum Ausprobieren und kreativ sein. Genau das, was in vielen europäischen Großstädten fehlt - und was früher oder später Touristen anlockt. So auch in Kerameikos.

Gemütszustand der Athener

Der Grund für den Athener Aktionismus ist allerdings bitter: Dem Staat traut niemand mehr. "Es ist wie, wenn man erfahren hat, dass man eine schlimme Krankheit hat", so beschreibt Costis Peikos den Gemütszustand der Athener: "Zuerst ist man traurig, dann wütend - und schließlich resigniert man. In diesem Stadium sind wir. Die Krise hat uns bitter und zynisch gemacht", sagt er.

Costis geht es gut. Eigentlich. Er hat einen Job - er arbeitet im Marketing. Und er hat eine schöne Frau, eine süße Tochter. Doch er sieht die Leute auf der Straße. Er sieht ältere Damen, die Klamotten aus besseren Tagen tragen und in den Mülltonnen wühlen. Wer ist der Nächste, der seinen Job verliert? Es ist die Seite Athens, die wenig mit der Sightseeing-Metropole der Reisekataloge zu tun hat.

Gegrillter Manouri-Käse mit süßem Paprika-Chutney

Costis sitzt mit Freunden in einem angesagten Restaurant in Kerameikos. Im "Laika" gibt es gegrillten Manouri-Käse mit süßem Paprika-Chutney, Schweinehappen mit einer Sauce aus Honig und Dijon-Senf, Fava-Bohnen-Püree mit Babyzwiebeln in traditioneller Stifado-Sauce. Die Tische sind voller Schüsseln und Teller. Die Menschen reden, essen, trinken, qualmen durcheinander - ein Rauchverbot gibt es nur theoretisch. Alle Plätze sind besetzt.

Das ist keine Ausnahme. Athen ist eine lebendige Stadt, in der die Cafés Tag und Nacht voller Menschen sind. Es herrscht ein Gewusel, Lachen und Feiern, um das Urlauber diese Stadt nur beneiden können. Das Leben pulsiert hier nur so in den Straßen, und man fragt sich: Gerade wegen oder trotz der Krise?

Lieblingsgetränk der Athener

Das Lieblingsgetränk der Athener ist ein altmodischer Frappé oder die modernere Variante Freddo Cappuccino. Ein tiefschwarzer starker Kaffee, im ersten Fall mit cremig geschäumtem Nescafe-Pulver und Kondensmilch oder als Freddo mit Espresso und kaltem Milchschaum. In jedem Fall mit Eiswürfeln. Beim Bestellen fragt die Bedienung, wie viel Zucker hinein soll. "Medium" ist eine gute Antwort. Eine schlechte lautet "kein Zucker". Dafür gibt es eine hochgezogene Augenbraue.

Der Herumsitz-Profi füllt Frappé oder Freddo mit Leitungswasser wieder auf. Denn das gibt es immer in einem großen Glas gratis zum Kaffee. Das Gebräu ist derart stark, dass man es problemlos verlängern kann. Praktisch, wenn man sich nicht mehr als ein Getränk leisten kann, aber trotzdem ausgehen muss. Ja, muss.

Gegenseitig Mut machen mit sarkastischen Witzen

Ein Athener kann nicht zuhause bleiben und seine Depression pflegen.

Anreise

Athen ist mit Direktflügen aus Deutschland etwa ab München oder Hamburg in zwei bis drei Stunden erreichbar.

Vom Flughafen Athen sind es rund 45 Minuten ins Stadtzentrum.

Der Taxi-Festpreis beträgt 38 Euro, die U-Bahn kostet 10 Euro.

Sie fährt jede halbe Stunde - sofern nicht mal wieder gestreikt wird.

Er muss raus ins Café und sich gegenseitig Mut machen mit sarkastischen Witzen über die Lage. Zum Beispiel über das neue Stavros Niarchos Foundation Culture Center, kurz SNFCC - mit dem Taxi 15 Minuten vom Kerameikos-Viertel entfernt.

Es handelt sich um ein brandneues, futuristisches Gebäude aus Glas und Stahl, in dem nun die Zentralbibliothek und die Oper Athens untergebracht sind. Es steht auf einem Hügel vor den Toren der Stadt und bietet einen wunderbaren Blick auf das Meer, den Hafen von Piräus und Athen. Von hier gesehen ergießt sich die Stadt wie ausgeschüttete Milch über braune Hügelketten. Entworfen hat das SNFCC der Architekt Renzo Piano, der auch das Centre Pompidou in Paris mitgestaltet hat.

Rosmarinsträucher, Thymianbüsche und Olivenbäume

Das Beste am SNFCC ist der riesige Park voller Rosmarinsträucher, Thymianbüsche und knorriger dicker Olivenbäume, die extra hierhin verpflanzt worden sind. Es gibt Kinderspielplätze, eine Laufbahn, mehrere Cafés - und überall kostenloses WLAN. Das SNFCC ist ein wunderbarer, öffentlicher Ort für Bürger, der jeder Stadt gut stehen würde. Es ist ein kultureller Ort, der Hoffnung macht auf das, was die Zukunft bereit halten könnte für Athen.

"Wir hoffen, dass die Regierung das SNFCC nicht innerhalb eines Jahres kaputt macht - so wie sie unser Land kaputt gemacht hat", witzelt Costis mit seinen Freunden.

Zehn Kilometer entfernt, am Victoria Square in der Nähe des Zentrums, sieht Athen wieder ganz anders aus. Hier im Park treffen Flüchtlinge ihre Schmuggler, hier verkaufen sich junge Männer.

Mehr als 30 Hausbesetzungen

Hinter dem Platz steht das pleite gegangene "City Plaza Hotel". "Wir sind einfach rein und haben das Hotel besetzt", sagt Nassim. Eigentlich ist der Hausbesetzer Übersetzer für Griechisch, Englisch und Farsi. Doch dafür hat er kaum noch Zeit, seit er bei der Solidaritätsbewegung mitmacht, einer Gruppe linker Aktivisten. Mehr als 30 Hausbesetzungen gebe es inzwischen in Athen, sagt Nassim.

Zu seinen drei großen Coups zählt eine Villa im Zentrum, wo jetzt Kulturveranstaltungen und Partys veranstaltet werden. In einem anderen Haus mitten in der Stadt schlafen obdachlose Griechen. Und hier im ehemaligen "City Plaza Hotel" am Victoria Square wohnen jetzt ungefähr 400 Flüchtlinge. "Wir müssen erkennen, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen können und müssen", sagt Nassim.

Zeit des Umbruchs

Konsequenzen hatten die Hausbesetzungen, illegalen Partys und Kunstaktionen bis jetzt keine. In dieser Zeit des Umbruchs schreitet die Polizei kaum ein. Nach Exarchia, dem Epizentrum der Linken und Anarchisten Athens, traut sich die Polizei nicht einmal mehr hinein. Und wenn, dann ausgestattet wie Soldaten bei einem Kriegseinsatz. Graffiti überall. Vor allem das Wort "Oxi" (Nein) ist häufig zu lesen. Nein zur Regierung, zu Steuererhöhungen und Kapitalismus.

Einer der bekanntesten Street-Art-Künstler Griechenlands, INO, gibt eigentlich keine Interviews mehr. Er erklärt aber per Mail: "In Exarchia gibt es viele Kids reicher Eltern, die dort rumhängen, billige Klamotten tragen und Anarchisten genannt werden wollen." Sie zerstörten die Autos und Geschäfte anderer Leute und glaubten, so das System zu treffen. "Wenn die Polizei sie erwischt, rufen sie ihre Mama an." Für manche ist die Krise ein hippes Spektakel.

Politische Kunstwerke

Die Werke INOs sind - wie könnte es anders in dieser Stadt sein? - sehr politische Kunstwerke: Im Zentrum Athens hat INO an eine Hochhauswand zwei gigantische Hände gemalt. Eine Hand zieht die andere nach oben. Der Titel des Werks: "Wake up" (Wach auf).

Wer Athen besucht, fühlt sich in der Tat aufgeweckt - und das liegt nicht nur am Koffein des Frappés. Der Reisende sieht hier nicht nur die weltberühmten Kulturschätze längst vergangener Zeiten, sondern auch die Krise der Gegenwart. Wenn er denn möchte. (dpa)