Medan. Rund 14.000 vom Aussterben bedrohte Orang-Utans gibt es noch auf Sumatra. Wer nur einem von ihnen begegnet, hat die Liebe fürs Leben gefunden.
Jackys Hände sind rau und kratzig. Ihre klugen, braunen Augen beobachten aufmerksam die Umgebung, die langen Finger halten einen dünnen Baum sicherheitshalber fest umklammert, während die andere Hand sanft nach den fremden Besuchern greift. Die flüchtige Berührung ist fast ein kleines Wunder: Der Sumatra-Orang-Utan gilt als vom Aussterben bedroht. Jacky ist eine der letzten ihrer Art.
Als Guide tagtäglich im Gunung Leuser Nationalpark
Seit einer Stunde schon stolpern wir über Steine, rutschen matschige Pfade hinunter, kämpfen uns durch unwegsames Dickicht. Die schweißnassen T-Shirts kleben am Rücken. „Jetzt haben wir den Dschungel fast erreicht“, verkündet Sinar Sipayung fröhlich. Kaum vorstellbar, dass dieses Wirrwarr aus Schlingpflanzen, Farnen und Bäumen noch dichter, das Gewimmel aus riesigen Waldameisen und Mücken noch größer werden könnte. Aber Sinar kennt sich aus: Seit zehn Jahren schon ist er als Guide tagtäglich im Gunung Leuser Nationalpark unterwegs, einem der letzten Rückzugsorte der Orang-Utans auf der indonesischen Insel Sumatra. „Hunde und Katzen mochte ich nie besonders“, erzählt Sinar freimütig. „Aber ich liebe Orang-Utans, sie sind so unglaublich menschlich.“ Da ist zum Beispiel der massige Patriarch, der sich behäbig an einen Baumstamm kuschelt, als wäre es sein Wohnzimmersessel – ein respekteinflößendes Männchen, von dem man besser Abstand hält. Oder der Teenager, der betont gelangweilt den Kopf in die Hand stützt und uns trotzdem von seinem Ast mit wachen Augen beobachtet. Der Rowdy, der sich so lange aufspielt, sich groß macht und die Brust rausstreckt, bis die hilflosen Guides ihm ein Stück Melone überlassen. Das süße Kind mit den wirr abstehenden, flauschigen Haaren, das der Mutter eine Banane klaut und sich für diese Frechheit gleich eine fängt.
97 Prozent der Gene von Mensch und Orang-Utan stimmen überein. Jeder Einzelne von ihnen hat eine eigene Persönlichkeit. Doch es sind die Augen, die diese Tiere so unglaublich vertraut erscheinen lassen. Augen, in denen wir uns selbst sehen. Wenn sich die Blicke treffen, ganz ohne Gitterstäbe, Elektrozäune oder Safari-Jeeps, scheinen sich Mensch und Tier tatsächlich zu verstehen – zumindest für diesen einen kurzen Moment, in großer Ruhe und tiefer Verbundenheit.
Ein Privileg, das man sich hart erarbeiten muss
Sinar führt uns immer weiter in den dichten, feuchten Wald hinein. Wir klettern an Wurzeln senkrechte Abhänge hinunter, ziehen uns schnaufend an Lianen die Berge hinauf. Das Privileg, die Orang-Utans aus nächster Nähe betrachten zu dürfen, müssen wir uns hart erarbeiten. Zum Glück ist Sinar ein wahrer Affenflüsterer, spricht gleich mehrere Sprachen fließend – mal klingt es wie ein kehliges Grunzen, mal wie ein schmatzender Kuss, wenn er Orang-Utans, Weißhandgibbons oder Paviane ruft. Früher hat Sinar im Rehabilitationszentrum von Bukit Lawang gearbeitet, das bis zu seiner Schließung 1995 verwaiste oder als Haustiere gehaltene Orang-Utans aufpäppelte und in den Nationalpark auswilderte. Inzwischen sind die Auffang- und Pflege-, die Auswilderungs- und Forschungsstationen der Schweizer Stiftung PanEco in entlegenere Gebiete abgewandert.
Die Orang-Utans, die es nur auf Sumatra und Borneo gibt, brauchen nach wie vor dringend Hilfe: Obwohl sie schon seit mehr als 60 Jahren unter Schutz stehen, landen noch immer Tiere auf dem Schwarzmarkt. Manche von ihnen werden in Kleidchen gezwängt und wie Puppen behandelt, andere sogar als Sexsklaven missbraucht. Und um Platz zu schaffen für ausgedehnte Palmölplantagen, wird der Regenwald im Rekordtempo gerodet. Der Lebensraum der Orang-Utans verbrennt – pro Stunde eine Fläche von 150 Fußballfeldern.
Durch die Zerstörung der Natur – seit Mitte des letzten Jahrhunderts hat Sumatra 80 Prozent seines Regenwaldes verloren – ging die Orang-Utan-Population in den vergangenen 100 Jahren um 95 Prozent zurück. Auf der Insel gibt es heute nur noch etwa 14.000 Tiere, die Population der Borneo-Orang-Utans wird immerhin noch auf 54.000 geschätzt.
Jacky ist ein Opfer der Menschen. Sinar kennt sie noch von früher. „Sie hat immer geweint, wenn ich sie in den Dschungel gebracht habe und sie nicht tragen wollte“, erzählt er schmunzelnd. Bei den täglichen Ausflügen vom Orang-Utan-Zentrum in den Urwald hat Sinar ihr das Klettern, die Nahrungssuche, den Nestbau beigebracht. Er war Jackys Lehrer, Freund, letztlich ihr Befreier.
Als wir Jacky nach Stunden und einem halben Dutzend ihrer Artgenossen im Regenwald treffen, ist das verliebte Grinsen längst in unseren Gesichtern festgetackert. Die Zikaden zirpen, der Fluss rauscht, die Zeit scheint stillzustehen. Der kleine Waldmensch, so die wörtliche Übersetzung von Orang-Utan, wirft noch einen letzten Blick zurück über die Schulter, dann schwingt sich Jacky wieder hinauf in die Baumkronen, ganz gemächlich, fast wie in Zeitlupe. Noch lange fängt ihr orange-braunes Fell die Sonnenstrahlen ein und leuchtet durch das Dickicht.
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