Frankfurt/London. Im Juni entschieden die Briten, dass sie aus der EU austreten möchten. Erste Folgen machen sich bemerkbar, auch in Deutschland.
Das Brexit-Votum der Briten im Juni zählt zu den großen Überraschungen des Jahres. Welche langfristigen Konsequenzen der angepeilte EU-Austritt hat, weiß niemand. Doch er macht sich schon jetzt bemerkbar - auch in Deutschland.
Seit dem Morgen des 24. Juni ist völlig unklar, wie Großbritannien künftig zur EU stehen wird - auch wirtschaftlich. Ökonomen fürchten, dass Premierministerin Theresa May einen "harten Brexit" durchsetzen wird, einen völligen Ausstieg aus dem Europäischen Binnenmarkt. Das könnte die Konjunktur treffen. Doch schon vor dem Start der Verhandlungen mit der EU hat das Brexit-Votum weitreichende Folgen im Alltag.
WÄHRUNG: Nach dem Referendum ist das britische Pfund eingebrochen. War es kurz davor gut 1,45 Dollar wert, fiel es bis Herbst auf zeitweise 1,21 Dollar - der tiefste Stand seit Jahrzehnten. Auch zum Euro verlor das Pfund. Das macht zwar Exporte britischer Firmen auf den Weltmärkten attraktiver. Der Pharmakonzern GlaxoSmithKline etwa verzeichnete dank Währungseffekten jüngst einen Gewinnsprung.
Doch zugleich verteuern sich Einfuhren nach Großbritannien. Konzerne wie Unilever wollten laut Medienberichten bis zu zehn Prozent höhere Preise für Produkte wie den beliebten Brotaufstrich Marmite durchsetzen. Die Supermarktkette Tesco verbannte die Paste daher aus den Regalen. Später einigte man sich im "Marmite-Krieg", der Brotaufstrich wird wieder verkauft. Dennoch wurde er zum Symbol der Pfund-Schwäche. Immerhin hat sich der Kurs zuletzt etwas erholt.
KONJUNKTUR: Ökonomen hatten vor dem Referendum vor schweren Folgen für die britische Wirtschaft gewarnt. Bisher halten sich diese aber in Grenzen. So legte das Bruttoinlandsprodukt von Juli bis September gemessen am Vorquartal um 0,5 Prozent zu. Das war weniger als im zweiten Quartal (0,7 Prozent), aber mehr als erwartet. Auch Europas Wirtschaft trotzt dem Brexit. Von Juli bis September wuchs sie genauso stark wie im Vorquartal. Die Stabilität sei ein "großes Plus", sagte Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der Bank KfW.
Indes könnte sich die Lage verschärfen. Der britische Finanzminister Philip Hammond erklärte zuletzt, die Wachstumserwartung für 2017 müsse nach dem EU-Austritt von 2,2 auf 1,4 Prozent reduziert werden. Ausländische Firmen könnten sich nach dem Brexit-Votum mit Investitionen zurückhalten. Für deutsche Exporteure etwa ist Großbritannien der drittgrößte Abnehmer von Waren und gerade für die deutschen Autobauer ein wichtiger Markt. Einer Konjunkturabschwächung will Großbritannien aber entgegenwirken: Premierministerin May kündigte an, die Unternehmenssteuern auf den niedrigsten Stand der führenden Industrieländer zu senken.
TOURISMUS: Je nach Perspektive ist das schwache Pfund Fluch oder Segen. Für Briten werden Reisen ins Ausland weniger erschwinglich, was der British-Airways-Mutterkonzern IAG zu spüren bekommt. Er senkte seine Prognose für Wachstum, Investitionen und Gewinn bis 2020. Länder wie Griechenland fürchten zudem, dass britische Touristen dort weniger Geld ausgeben. Andererseits werden Reisen nach Großbritannien dank des schwachen Pfunds billiger. Für reiche Touristen ist London nun erst recht ein Shopping-Paradies - der Luxusgüterkonzern Burberry berichtete von 20 Prozent mehr chinesischen Kunden nach dem Brexit-Votum.
Airlines wie Ryanair treibt der erwartete EU-Austritt noch stärker auf den Kontinent. Der Billigflieger will mehr Flugzeuge außerhalb Großbritanniens einsetzen. Die Rivalin Easyjet fürchtet zudem um ihre Verkehrsrechte - und plant den Aufbau eines Flugbetriebs innerhalb der EU. Beides setzt europäische Anbieter wie Lufthansa unter Druck.
IMMOBILIEN: Den britischen Immobilienmarkt hat das Referendum arg getroffen. Aus Unsicherheit halten sich Investoren zurück - selbst in London, das als krisensicher galt. Nach dem Brexit werde die Stadt 2017 nur noch auf Platz 27 der begehrtesten Immobilienstandorte Europas liegen, heißt es in einer Studie der Beratungsfirma PwC.
Deutschland hingegen werde so stark vom EU-Austritt der Briten profitieren wie kein anderes Land in Europa. "Wir beobachten, dass Investorengelder, die für den britischen Markt eingeworben wurden, nun in deutsche Städte fließen", sagt Expertin Susanne Eickermann-Riepe. Deutschland habe einen Ruf als sicherer Hafen. 2017 würden vier der fünf attraktivsten europäischen Immobilienstandorte hierzulande liegen - Berlin, Hamburg, Frankfurt und München. Ein großer Sprung wird dem möglichen Brexit-Gewinner Frankfurt vorhergesagt - von Rang 14 dieses Jahr auf Rang drei 2017.
BINNENMARKT: Der gemeinsame europäische Markt, der freien Verkehr für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen garantiert, ist auch für Großbritannien wichtig. Das weiß Premierministerin May und will dem Land trotz Brexit weitgehend Zugang zum Binnenmarkt sichern. Es gelte, in den Verhandlungen mit der EU "den besten Deal" zu erreichen. Brexit-Minister David Davis ließ verlauten, Großbritannien könnte künftig Geld für einen Zugang zum Binnenmark zahlen. Die EU lehnt aber "Rosinenpicken" ab. Drittländer wie Großbritannien könnten nie dieselben Rechte haben wie Mitgliedsländer, sagte der Chefunterhändler der EU-Kommission, Michel Barnier.
Das britische Finanzministerium hatte vor hohen Kosten gewarnt, sollte das Land komplett aus dem Binnenmarkt ausscheiden. Innerhalb der kommenden 15 Jahre könnte das Bruttoinlandsprodukt dann um bis zu 9,5 Prozent schrumpfen, hieß es in einem Papier. Das entspräche einem Rückgang der Steuereinnahmen von bis zu 66 Milliarden Pfund (73 Mrd Euro). Brexit-Anhänger halten die Zahlen für Panikmache.
BANKEN: Zahlreiche Banken haben angekündigt, Arbeitsplätze von London in andere Finanzzentren zu verlagern. Sie wissen nicht, ob sie nach dem Brexit noch von London aus Finanzgeschäfte in der gesamten EU betreiben dürfen. So verkündete die US-Bank Citigroup jüngst, bis zu 900 Arbeitsplätze nach Dublin zu verschieben.
Um Arbeitsplätze konkurrieren auch Paris und Frankfurt. Der Lobbyverein "Frankfurt Main Finance" erwartet 10.000 neue Jobs am Main binnen fünf Jahren. Sie dürften aber eher von US-Banken kommen als von deutschen. Die Deutsche Bank, die Tausende Investmentbanker in London beschäftigt, glaubt nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien "kurzfristig wesentlich" ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. (dpa)