Meppen. Wenn das mal kein Marketing-Coup ist: Wer offizielle Orte für Selfies sucht, soll ins Emsland kommen - und findet dort am Ende noch sehr viel mehr.

Sollte Ihnen, verehrte Reisende, bislang kein Unterschied aufgefallen sein zwischen touristischen Destinationen wie dem Taj Mahal und dem Dorfplatz von Esterwegen (Gemeinde Nordhümmling), zwischen Pisas schiefem Turm und Lastrups Alter Buche, zwischen Neuschwanstein und der Hüvener Mühle...

Wir unterbrechen und lösen auf: Erst- von Zweitgenannten unterscheidet sämtlich, dass sie einerseits nicht zum Emsland gehören, was ja noch angehen mag. Spektakulärer der andere Unterschied: Erstgenannte haben keinen zertifizierten Selfie-Standort. Tatsächlich geht das Emsland, diese von sanften Flüssen und Kanälen, von friedlichen Weiden und stillen Klinkerstädtchen gezeichnete deutsche Ländlichkeit, in eine Digital-Offensive. Ein Pionier aus Meppen!

Schnappschüsse in Hochkonjunktur

Anreisend schmunzeln wir noch über die touristische Leuchtrakete. Aber als wir in Oberhausen viel Zeit zum Umsteigen haben, erblicken wir in der Fußgängerzone das Maß der Dinge: die Wirklichkeit. Es wird zwei jungen Damen ein Erdbeerbecher serviert. Ältere würden in dieser Situation vielleicht zum Löffel greifen. Diese hier aber zücken das Smartphone. Motiv: Der Becher und ich. Die Hälfte des Motivs wird in zehn Minuten diesen Planeten verlassen haben. Das Digitale als Kronzeuge des Vergänglichen?

An der Konjunktur telefonischer Schnappschüsse zu zweifeln, ist unmöglich. Im IC nach Emden werden sich wenig später die Damen eines Koblenzer Kegelclubs mit dem Bizeps eines DB-Gepäckassistenten in Szene setzen. Als später zwei blitzgescheite Bochumer die Zugtoilette zum Raucherraum umdeuten, es einen Alarm gibt und wir als Schicksalsgemeinschaft eine halbe Stunde in Lingen (Ems) auf dem Gleis stehen, wirft auch dies Dutzende Selfies ab.

"Nich lang schnacken, Kopp in’ Nacken!"

Vor diesem Hintergrund macht eine der wirtschaftlich stärksten Regionen Deutschlands, die mit diskretem Stolz ihre nicht nur am Tresen zupackend problemlösende Lebenshaltung in einen Reim zu fassen weiß („Nich lang schnacken, Kopp in’ Nacken!“), eigentlich alles richtig. Es sind schon um die 50 emsländische Standorte für Selbstporträts der neuen Generation zertifiziert. Deren Symbolik ist ein nachgerade archaischer Gegenpol zur Pixel-Pioniertat: Ein Abdruck auf den Boden gesprayter nackter Füße – wir schätzen Schuhgröße 51 – signalisiert: Hier bist Du Selfie, darfst Du’s sein!

Man könnte künftig also die Eroberung dieses in seinen geografischen Ausmaßen (von Papenburg im Norden bis nach Emsbüren im Süden an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen sind es rund 100 Kilometer) nicht zu unterschätzenden Landstriches ganz und gar jener Premium-Liga eines „Best Of“ unterwerfen. Könnte aussteigen, auslösen, einsteigen, aussteigen, auslösen und von „Pastor sine Koh“ (Skulptur, Emsbüren) über das Torfwerk Hahnemoor und den Herßumer Teepohl bis zu Papenburgs Meyer Werft Niedersachsen nach altjapanischer Feriensitte erobern.

Weinschätze und Rekord-Schal

Tatsächlich aber rückt der Selfie-Gag bald aus unserem Blickwinkel. Das darf das Emsland gerne als Kompliment nehmen: Selbst erlebt ist einfach schöner als Selfie gemacht – ob wir im Garten von Schloss Clemenswerth lustwandeln, das Hasetal per Rad erkunden oder an Papenburgs Hauptkanal entlangschlendern. Schön hier, schön ruhig, vielfach idyllisch. Die können kochen (Jagdhaus Wiedehage, Haselünne, 1a!), und dolle Typen bringt der schwere Emsländer Boden scheint’s reihenweise hervor. „Soll ich den Unterkiefer mal eben rausnehmen?“, fragt Hermann Schulte, Landwirt und Chef vom „Hofcafe an der Biberburg“ obwohl wir doch eben seine berühmte Bibertorte essen. Er meint zum Glück nicht den eigenen, demonstriert mit Witz und Wissen am Tierknochen, wie der wiederangesiedelte Nager alles kleinkriegt.

Andere tragen den Pelz innen, wie Hermann Held. In den Kellern seines gutbürgerlichen „Zur Ems“ in Haren liegen unglaubliche Weinschätze, die sonst nur Metropolenhotels listen: Pétrus, Rothschild... – der älteste wurde 1865 gelesen. Typen wie Claudia Nieters aus Werpeloh, die nur noch auf den Brief vom Notar wartet, damit ihr mehr als sieben Kilometer langer selbst gestrickter Schal endlich ins Guinness-Buch kommen kann. Oder Ludger Stukenborg, der im Freilichtmuseum Papenburg aus den Kindertagen erzählt, da er selbst noch Torf gestochen hat.

Je mehr Emsland wir sahen, desto seltener taten wir es durchs Handy. Das mit den Standorten war ein Mittel zum Zweck. So gesehen dann doch nicht ganz verkehrt.