Essen. Die großen Reiseveranstalter haben das Bergell in der Schweiz nicht in ihren Angeboten, doch gerade im Herbst ist es ein Wandertal per excellence.

Selbst Schweizer geraten mitunter in Verlegenheit, wenn der Name Bergell fällt. Denn die Val Bregaglia, wie das Tal im Süden Graubündens von den Einheimischen genannt wird, liegt abseits des großen Fremdenverkehrs. Und das obschon seit Jahrtausenden Touristen durch das Tal ziehen: Die Etrusker reisten durch das Bergell und über den Malojapass zu den Heilquellen beim heutigen St. Moritz. Die Römer lenkten ihren Verkehr durch das Bergell zum Septimerpass. Und Jahrhunderte lang zog der Handelsverkehr des Mittelalters und der Neuzeit durch das Tal ins Oberengadin hinauf.

Die Veranstalter haben das Tal nicht im Angebot

Trotz des auch heute noch beachtlichen Durchgangsverkehrs zwischen Oberengadin und Comer See blieben malerische, kleine Dörfer wie Casaccia, Stampa oder Bondo zwischen Malojapass und Chiavenna weitgehend unberührt. Die großen Reiseveranstalter haben das Bergell nicht in ihren Angeboten, der Winter als Kassen füllende Saison findet in diesem Tal, das im oberen Teil nordisch alpin ist und in dessen unterem Teil Kastanien, Feigen und Palmen wachsen, noch nicht statt. Es gibt keine modernen Großhotels oder Apartmentsiedlungen. Und mit Ausnahme der Werksseilbahn, die von Pranzeira zum Albignastausee hinauf führt und Touristen die Albignahütte als idealen Ausgangspunkt für Bergtouren erschließt, gibt es keine Aufstiegshilfen. Kurz: Im Bergell ist die Schweiz ganz anders als überall sonst.

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Der Blick vom Friedhof in Soglio hinüber ins Bondascatal, das beim Dörfchen Bondo abzweigt, macht verständlich, dass das Bergell oft als schönstes Tal der Schweiz gerühmt wird. In den Talwiesen, in denen es im Sommer glüht von unzähligen faustgroßen Blüten der wilden Feuerlilien, schimmern jetzt zartlila die Herbstzeitlosen. Und dahinter baut sich, von Firn und Gletschereis umgeben, die majestätische Gestalt des Piz Badile auf, des Königs der Bergeller Berge.

In der Regel sind die vier Hütten des SAC, des Schweizer Alpenclubs, nur bis Ende September geöffnet. Doch bei beständigem, gutem Wanderwetter kann es durchaus auch längere Öffnungszeiten geben. Davon abgesehen ist das Bergell gerade im Herbst ein Wandertal per excellence. Jetzt ist die Zeit, die Val Bregaglia auf ihrem schönsten Wanderweg zu erleben: Der Obere Plattenweg durchzieht sie von Casaccia unterhalb des Malojapasses bis Castasegna an der italienischen Grenze in ihrer vollen Länge. Er beschert immer wieder neue, faszinierende Blicke ins Tal hinunter auf die kleinen Dörfer, auf römische Wachtürme und alte Herrenhäuser. Wer Glück hat, begegnet der ein oder anderen Herde Weidevieh, die von der Alpe ins Tal getrieben wird.

Nach fünf Stunden Wanderung taucht am Ende des Weges Soglio auf, oft als schönstes Gebirgsdorf Europas gepriesen. Der Maler Giovanni Segantini hat in einem italienischen Wortspiel gesagt: „ Soglio è la soglia del paradiso“ – Soglio ist die Schwelle zum Paradies.

Berühmte Edelkastanien frisch aus dem Wald

Auf einer weiten, sonnigen Terrasse, hoch über dem Talkessel, aus dem der größte Edelkastanienwald der Schweiz aufsteigt, liegt das kleine Dorf, dessen rund 200 Einwohner in verwitterten Holzhäusern unter Dächern aus schweren Steinplatten leben. So dicht stehen die Häuser in Soglio beieinander, dass man durch manche Gassen nicht mit ausgebreiteten Armen gehen kann. Der Fahrer, der ein paar Mal am Tage das Postauto von Promontogno unten im Tal heraufbringt und zur Rückfahrt in Soglio wenden muss, kann nur ein Artist am Steuer sein.

Der berühmte Kastanienwald, oder besser gesagt seine Früchte, sind die besondere Attraktion des Herbstes in Soglio. Auch wenn manche der kleinen, weiß verputzten Cascines, der Häuschen, in denen die Maronen geröstet werden, heute zu Ferienhäuschen umfunktioniert sind, ernten die Bauern doch immer noch ihre Maronen. Allerdings klagt man in Soglio, dass die große Zeit des Waldes vorbei ist. Viele Bäume seien krank und trügen nicht mehr genügend Früchte. Ein anderes Problem für die Bauern ist der Fremdenverkehr, der vor allem im Herbst das paradiesische Dorf bevölkert. Allzu viele Touristen, so klagt man in Soglio, bedienen sich im Kastanienwald, anstatt die Früchte zu kaufen.

Einen Tag lang werden die Früchte aufgesammelt, am nächsten Tag muss der Boden von stacheligen Schalen gereinigt werden. Feine Rauchsäulen steigen dort auf, wo Bäuerinnen oder Kinder den Abfall verbrennen, sie steigen aber auch aus den Cascines auf, in denen die kostbaren Früchte gedörrt werden.

Mitten in der hölzernen Idylle Soglio steht der Palazzo Salis, ein Bau, der seine heutige Form im 17. Jahrhundert bekam. Dieser Palazzo der Familie Salis, die als Lehnsleute der Churer Fürstbischöfe das Bergell beherrschten, ist seit mehr als 100 Jahren Hotel. Ein Schmuckstück in diesem Schmuckstück Soglio. Ebenso wie die Kirche in Bondo, unten im Tal. Dass in der Kirche eines Gebirgsdorfes ein so reich beschickter Abendmahlstisch zu finden ist, dürfte eine Folge des Wohlstandes sein, den der Handels- und Warenverkehr zwischen Italien und dem Oberengadin gebracht hat.