El Mirador. Wo einst eine Hochkultur heimisch war, gibt es heute größtenteils Urwald. Im Norden Guatemalas befand sich die größte Maya-Metropole El Mirador.

Wenn die Abendsonne einen letzten Tropfen Blut in den Himmel El Peténs in Guatemala wischt, dringt ein gespenstisch heiseres Gröhlen aus den Wipfeln, dem eine wilde Horde aufgebrachter Geisterstimmen antwortet. „Brüllaffen“, murmelt Juan Carlos. Der Maultiertreiber steht einsam auf der von Bäumen und Schlingpflanzen überwucherten Pyramide von El Tintal. Zu seinen Füßen gieren in der schwülen Tropenhitze Abermillionen Blätter nach der Kühle des Abends. Nichts als Wildnis ringsum. Keine Straße. Keine Wegschneise. Keine Rauchfahne. Noch nicht einmal der Kondensstreifen eines Flugzeugs kratzt ins Abendrot über dem größten Urwaldgebiet Mittelamerikas.

Der Maultiertreiber lässt den ausgestreckten Arm am Horizont entlangwandern. Sein Zeigefinger hält immer wieder an winzigen Kuppen inne, die aus dem Flachland ragen. Xulnal. Wakna. Nakbe. Juan Carlos spricht die Namen aus wie eine längst vergessene Zauberformel.

Es sind keine Berge, deren Namen Juan Carlos aneinanderreiht. Es sind die Gipfel mächtiger Maya-Pyramiden, die vor 2000 Jahren die stolzen Zentren von geschäftigen Metropolen waren. „Würden wir zur Zeit Jesu hier stehen“, sagt er, „dies hier wäre eine einzige Stadt. Pyramiden. Hochstraßen. Menschenmassen. Die größte Metropole der Maya.“

Zwei Jahrtausende lang auf keiner Landkarte

Weit entfernt am Horizont ragt ein Hügel besonders weit aus der Dschungelebene: La Danta. Mit 72 Metern die höchste aller Pyramiden Mesoamerikas, höher als die Sonnenpyramide von Teotihuacán in Mexiko und massiver als die Cheops-Pyramide von Gizeh in Ägypten. Sie war einst das Zentrum der Maya-Welt. Sie ist das Ziel unserer Expedition. Nach zwei schweißtreibenden Tagesmärschen auf sumpfigen Urwaldpfaden wollen wir dort oben stehen, auf der Spitze einer verlorenen Hochkultur. Zwei dünnbeinige Maultiere schleppen unseren Proviant.

Warum El Mirador, wie die verlorene Maya-Stadt später genannt wurde, um 150 nach Christus scheinbar urplötzlich verlassen wurde, ist bis heute nicht restlos geklärt. So mysteriös wie die Stadt einst aus dem Dschungel gestampft wurde, verschwand sie für fast zwei Jahrtausende wieder von der Landkarte. Die Ruinen der Pyramiden wurden zum Revier des Jaguars. 1926 wurde die Maya-Stadt wiederentdeckt, erst Jahrzehnte später von Archäologen kartiert.

Nur zu Fuß oder per Hubschrauber zu erreichen

„In El Mirador entstand die erste staatenähnliche Gesellschaft der westlichen Hemisphäre“, sagt Richard Hansen. „Die Hauptstadt der Präklassik.“ Der amerikanische Archäologe kam 1979 mit 26 Jahren als Student nach El Mirador. In Guatemala erhielt Hansen den Spitznamen „Indiana Jones“, nachdem er den Absturz seines Propellerflugzeugs nahe El Mirador überlebt hatte. Er kartierte in der Mirador-Ebene mehr als 80 Städte und Siedlungen, die mit der Hauptstadt teils durch imposante Hochstraßen verbunden waren. „Allein El Mirador muss zu Blütezeiten um die 200.000 Einwohner gehabt haben“, mutmaßt Hansen, „die gesamte Region wahrscheinlich mehr als eine Million“.

Bei Sonnenaufgang brechen wir vom Fuß der Pyramide von El Tintal zu unserer zweiten Etappe nach El Mirador auf. Eines der Maultiere schwächelt. Ein Zeckenstich am Hals hat sich zu einer blutigen Wunde entwickelt. Juan Carlos klopft dem erschöpften Tier aufmunternd auf die Flanke. Wir stapfen durch feuchtes Sumpfland, vorbei an trüben Tümpeln, über denen kobaltblaue Schmetterlinge taumeln. Noch heute ist El Mirador nur auf schmalen Dschungelpfaden oder mit dem Hubschrauber zu erreichen.

Reise-Infos

Anreise: Mit Condor (01806/76 77 67, www.condor.de) ab Frankfurt nach Cancún oder Panama Stadt und von dort mit Avianca (www.avianca.com) weiter nach Flores in El Petén.

Veranstalter: Travel to Nature (07634/5 05 50, www.travel-to-nature.de) bietet die 14-tägige Gruppenreise „Guatemala pur“ ab 2015 Euro pro Person. Der guatemaltekische Veranstalter Mundo Guatemala ( 00502/54 29 27 79, www.mundo-guatemala.com) unter deutscher Leitung organisiert Individualreisen nach El Mirador.

Trekking nach El Mirador: Von Flores fährt ein Bus bis Carmelita, dem letzten Dorf im Maya-Biosphärenreservat. Für das Trekking nach El Mirador sollte man jeweils zwei Tage für den Hin- und Rückweg und zwei weitere Tage vor Ort einplanen.

Kontakt: Instituto Guatemalteco de Turismo, www.visitguatemala.com

Unermüdlicher Kampf gegen Plünderungen und Kahlschlag 

Seit die Archäologen die ersten Bauten freilegten, folgten ihnen Grabräuber bis ins Zentrum der Mirador-Ebene. Sie schlugen Schneisen in die Pyramiden, plünderten unzählige Grabkammern. „Es ist eine Tragödie“, sagt Hansen. „Wo ich keine Wachen stationieren kann, wird alles ausgeraubt.“ Noch mehr machen ihm Holzfäller zu schaffen.

Der Archäologe kämpft unermüdlich für die Rettung der Mirador-Ebene. Für seine Schlacht gegen Plünderer, Wilderer und die Holzindustrie erhielt er Todesdrohungen. Sie konnten ihn nicht abschrecken, weiter im Urwald nach den Ursprüngen von El Mirador zu forschen. „Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, dass dieses Gebiet zu wertvoll ist für den Kahlschlag. Das ist, als würde man den Eiffelturm zur Metallverarbeitung abreißen.“

Durch Fundraising hat Hansen Millionen für den Erhalt El Miradors zusammengetragen. Hollywood-Stars und andere Superreiche spendeten. Zu seinen Unterstützern zählt auch Mel Gibson, den er für das Maya-Epos „Apocalypto“ beriet.

Die eigene Lebensgrundlage zerstört

Am Abend stehen wir auf der Spitze von La Danta, zu unseren Füßen nichts als Dschungel bis zum Horizont. Kaum vorstellbar, welche Aussicht sich einst Priestern und Königen bot, die vor 2000 Jahren genau hier standen. Vor dem inneren Auge entfaltet sich die alte Pracht El Miradors: Dutzende dunkelroter Pyramiden wuchern aus dem Urwald. Von wackeligen Holzgerüsten schleifen Künstler meterhohe Masken aus den bombastischen Kalksteinfassaden. Auf einem Marktplatz laden Händler ihre Waren ab: Grün schillernde Jade, perlmuttfarben glänzende Muschelschalen vom karibischen Meer und prächtige Ozelotfelle aus den Wäldern von Calakmul. Auf weißgekalkten Hochstraßen schleppen Karawanen von Arbeitern Felsbrocken mit schierer Manneskraft. Lasttiere und selbst das Rad waren den Maya unbekannt.

Das Krächzen eines Tukans reißt uns zurück in die Gegenwart. Den letzten Kampf zwischen Mensch und Natur gewann der Urwald. Er begrub selbst die gewaltigsten Zeugnisse von Habgier und Maßlosigkeit unter den mächtigen Wurzeln seiner Sapotilla- und Brotnussbäume. „Die Bewohner El Miradors legten die Sümpfe trocken, trugen den Lehm ab und fällten den Wald für die Anlage ihrer Terrassenfelder und den Bau ihrer immer aufwändigeren Bauten“, sagt Hansen. Irgendwann hatten sie ihre eigene Lebensgrundlage zerstört. Die Konsequenz waren wohl Hungersnöte und Kriege, die die Maya zwangen, die einst machtvollste ihrer Städte aufzugeben.

Dämonengesang im Morgengrauen

„Ihre übermäßige Verschwendungssucht war der Grund für ihren Niedergang“, sagt Hansen. „Wir tun heute nichts anderes. Und wir werden einen schrecklichen Preis dafür bezahlen.“

In der Nacht vor unserer Rückkehr machen wir uns noch einmal auf den Weg nach La Danta. Im Licht von Juan Carlos’ Taschenlampe reflektieren die Augen von handtellergroßen Spinnen. Leuchtkäfer irrlichtern geisterhaft durch das Unterholz. Dann stehen wir vor der Pyramide, ein Berg aus gehauenem Stein unter Millionen von Sternen. Wir steigen mühsam Stufe um Stufe hinauf bis auf die oberste Plattform. Atemlose Stille. Als der Große Wagen im Morgengrauen versinkt, stimmt ein winziger Vogel ein monotones Lied an. Irgendwo beginnt eine Horde Brüllaffen ihren Dämonengesang.