Hagen. Christian Rohlfs, Emil Schumacher: Der Hagenring war immer eine Heimat für Kunstvisionäre. Wie sieht der Verein seine Zukunft?
In den frühen Nazi-Jahren nach 1933 ermuntert der damalige Hagener Oberbürgermeister die städtische Jugend, im Museum Bilder von Christian Rohlfs mit dem Gesicht zur Wand zu hängen, wenn diese bei ihnen Befindlichkeiten auslösen. Das ist ein Auftakt zur Aktion „entartete Kunst“. Das Hagener Museum wird 1937 bei zwei Beschlagnahmungsaktionen geplündert. 400 beziehungsweise 500 Bilder verschwinden in den Sammelstellen in München und Berlin, darunter allein 146 Werke von Rohlfs. Von der Umdreh-Aktion wissen wir, weil es die Künstlervereinigung Hagenring gibt, die in diesem Jahr 100 Jahre alt wird.
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Jeder Kunstverein bildet so etwas wie ein seismographisches Gedächtnis seiner Stadt. Entsprechend lädt der Hagenring in seinem Jubiläumsjahr zum Nachdenken darüber ein, wie sich Gesellschaft und Kunst im Guten wie im Schlechten zueinander verhalten. In dem Jubiläums-Katalog „100 Jahre Hagenring“ finden sich Zitate und Erinnerungen, die Stadtgeschichte in der Kunstgeschichte spiegeln. Darunter auch ein Text des bekannten Sauerland-Malers Paul Seuthe aus dem Jahr 1975, der an die Bilder-Umdrehung bei Christian Rohlfs erinnert. Der Anlass ist ein trauriger. Wieder werden laut Seuthe im Hagener Museum durch Jugendliche Bilder ab- und umgehängt, diesmal handelt es sich um abstrakte Werke von Emil Schumacher, die den Jugendlichen wohl zu modern sind.
Echo einer Katastrophe
Gegründet wurde der Hagenring als Echo einer großen Katastrophe: dem Verkauf der Sammlung Folkwang nach Essen, jenes weltweit ersten Museums für moderne Kunst, mit dem der Kunstpionier Karl Ernst Osthaus seine Heimatstadt berühmt machte. Viele Künstlerinnen und Künstler verlassen Hagen nach dem Tod von Osthaus 1921, aber andere bleiben in der Stadt, allen voran Christian Rohlfs, der zum Motor des neuen Kunstvereins wird. „Er soll gesagt haben: bevor Hagen wieder künstlerische Provinz wird, müssen wir uns stärker aktivieren“, zitiert Hagenring-Vorsitzender Karl-Josef Steden aus den Erinnerungen des Gründungsmitglieds August Müller-Lamberty.
Das gesellschaftliche Klima ist nach der Jahrhundertwende gut für die Kunst: Mit dem Erstarken des Bürgertums durch die industrielle Revolution gibt es das Bedürfnis, die Welt durch Kunst zu erkunden, die ersten Kunstvereine entstehen; der Hagenring gehört zu den ältesten in ganz NRW. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, dass die Söhne und Töchter von Hagener Handwerksfamilien Künstler werden, so das Hagenring-Mitglied Heinrich Brocksieper, der bereits 1919 nach Weimar ans Bauhaus geht; ihm folgen unter anderem das Hagenringmitglied Reinhard Hilker und Erna Mayweg, die später in der Künstlerkolonie Worpswede Fuß fasst. Steden zitiert den Gründungsgedanken, der noch ganz im Sinne von Osthaus formuliert wird. „Wir bekennen uns zur Gegenwart, und in der Gegenwart zum Fortschritt. Wir wollen durch den Fortschritt das Historische mit dem Geist der Gegenwart durchdringen und in die Zukunft hineintragen.“ Steden: „Das Prinzip der Toleranz hat der Hagenring in allen Jahren des Bestehens als herausragende Tugend bis heute bewahrt und praktiziert.“
Mit Blick auf die heutige gesellschaftliche Entwicklung wäre in der Rückschau interessant, wie sich die Hagenring-Künstler zum Nationalsozialismus verhalten haben. Genau darüber gibt es aber kaum Material. Christian Rohlfs, Karel Niestrath, Reinhard Hilker, Theo Brün, Will Lammert, Wilhelm Nagel, Albert Kranz und andere werden von den Nazis als „entartet“ diffamiert und aus den Museen geholt, verkauft oder vernichtet. Rohlfs erhält Malverbot und wird am 7. Januar 1938, einen Tag vor seinem Tod, aus der Preußischen Akademie der Künste in Berlin ausgeschlossen. Persönlichkeiten wie Heinrich Brocksieper und der junge Emil Schumacher stellen ihre Ausstellungsaktivitäten komplett ein; andere wie Hilker arrangieren sich mit dem Regime. Der Hagenring-Geschäftsführer Johann Melchior Lange (1891-1972) ist Kommunist; er flüchtet zunächst nach Moskau und siedelt später in die DDR über. „Wie die Gleichschaltung verlaufen ist, darüber wissen wir gar nichts“, konstatiert Steden. „Es ist bedauerlich, dass so wenig Material überliefert ist.“
Der Hagener Glaskünstler Hans Slavos (1900-1969) wird nach dem Zweiten Weltkrieg vom britischen Stadtkommandanten ins neugegründete Stadtparlament berufen. Slavos ist der Initiator einer Neugründung des Hagenrings, dessen Vorsitzender er von 1945 bis 1967 bleibt. Er führt den Verein in die Nachkriegsmoderne.
Heute kommen die 34 aktuellen Hagenring-Künstler, fast alle sind studierte Profis, über die Stadt hinaus aus der ganzen Region. Nach wie vor muss man sich um eine Mitgliedschaft bewerben. „Es könnte besser sein, was den Nachwuchs betrifft, aber da bin ich optimistisch“, so Steden. Das Problem scheint weniger die Zukunft, sondern der Umgang mit der Vergangenheit. Was passiert mit den Arbeiten der Hagenring-Künstler, wenn es keine Erben gibt, die das Werk pflegen? Helwig Pütter zum Beispiel, zu Lebzeiten ein regional bedeutender Künstler, ist heute vergessen, sein Nachlass laut Steden verschollen. Für die Nachlässe, welche die Erben an den Hagenring geben möchten, ist zu wenig Depot-Platz vorhanden.
Der Hagenring ist nicht zuletzt eine Geschichte starker Frauen in der Kunst. Weibliche Gründungsmitglieder sind nicht bekannt. Aber die Bildhauerin Milly Steger, die 1910 von Karl Ernst Osthaus nach Hagen berufen wird, hat natürlich Vorbildfunktion. Hagenring-Mitglied Lis Goebel, die in Berlin bei Käthe Kollwitz und Lovis Corinth studiert, kehrt 1933 nach Hagen zurück und begründet eine Ateliergemeinschaft mit dem Bildhauer Karel Niestrath. Auch ihre Bilder werden 1937 als entartet beschlagnahmt. Die Hagenring-Mitglieder Ruth Eckstein, Roswitha Lüder, Irmgard Wessel-Zumloh, die Mitbegründerin des Westdeutschen Künstlerbundes, gehören hingegen zu den prägenden Künstlerpersönlichkeiten im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Ein Erbe, dessen Verpflichtung sich der Hagenring durchaus bewusst ist.
Im Jubiläumsjahr 2024 zeigt der Hagenring mehrere Ausstellungen. Derzeit sind bis zum 7. April in der Galerie in der Eilper Straße 71-75 unter dem Titel „Hass und Hoffnung. Afghanistan“ Arbeiten des Hagener Fotografen Andy Spyra zu sehen. Vom 14. April bis zum 26. Mai stellt die Arbeitsgemeinschaft Siegener Künstlerinnen und Künstler dort aus. Im Osthausmuseum ist dann vom 14. September bis 10. November die große Jubiläumsausstellung zu sehen. www.hagenring.com