Münster. . Gedrückte Stimmung und leere Terrassen am Tag nach der Amokfahrt. Fünf Opfer noch in Lebensgefahr – immer mehr Details aus dem Leben des Täters.

Mittag ist es und die Stadt ist voll aber die meisten Tische und Stühle, die sie raus gestellt haben rund um den Prinzipalmarkt in Münster, bleiben leer. Offenbar fällt es den Menschen schwer, ihr Mittagessen keine hundert Meter von der Stelle zu genießen, wo am Samstag der 48-Jährige Jens R. mit seinem Camping-Bus in eine Menschenmenge raste und sich anschließend selbst erschoss. Ein Kellner zuckt die Achseln. „Na ja“, versucht er die Leere schön zu reden, „ist ja auch ein frischer Wind.“

„Unsinn“, hält Jura-Student Marco (25), dagegen. „Natürlich hat das mit der Amokfahrt zu tun.“ Die Stimmung in der Stadt ist immer noch „bedrückt. Es wird nicht viel gelacht“, sagt Marco, ist aber überzeugt: „Das kommt wieder.“ Vielleicht schon am kommenden Wochenende, wenn der „Frühjahrssend“ beginnt, die größte Kirmes im Münsterland, die gerade aufgebaut wird. „So schlimm das alles ist. Das Leben geht weiter.“

Wegen Bauarbeiten keine Poller

Am Kiepenkerl aber steht es derzeit still. Hunderte Grablichter brennen vor der Statue, Passanten, die vorbeikommen, bleiben kurz stehen. „Schrecklich ist das alles“, sagt eine grauhaarige Dame und fragt ihren Mann. „Wieso gibt es hier eigentlich keine Poller?“ Die gibt es. Keine großen schweren Sperren, aber dicke Parkplatz-Poller. Fünf von ihnen allerdings fehlen und öffnen eine Lücke auf den Platz, die R. nutzte, um mit seinem Auto in die Terrasse zu rasen.

„Die hätten den Camping-Bus vielleicht nicht stoppen können“, glaubt ein Geschäftsmann aus der Umgebung. „Aber sie hätten ihn gebremst.“ Angeblich, so ist rund um den „Kiepenkerl“ zu hören, seien die Poller vor kurzem entfernt worden, weil in der Straße, über die Geschäfte und Lokale rund um die Unglücksstelle mit frischer Ware versorgt werden, zur Zeit gebaut werde. Die Stadt will dazu nicht Stellung nehmen. Man untersuche, warum die Poller nicht da seien, sagt Sprecherin Sigrid Howest.

Fünf Menschen schweben noch in Lebensgefahr

Dafür gibt es neue Informationen über den Zustand der Verletzten. Zwei Tage nach der Amokfahrt schweben noch fünf von ihnen in Lebensgefahr. „Wir tun alles, um ihre Situation zu stabilisieren“, sagte der Direktor der Münsteraner Uniklinik, Robert Nitsch, gestern auf einer Pressekonferenz.

Die Polizei hält sich derweil immer noch zurück mit Informationen über Jens R. Sie bestätigt nur, dass er für die Pistole, mit der er sich erschoss, keinen Waffenschein besaß. „Es war keine ordnungsgemäß erworbene Waffe“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul. Ansonsten sprechen die Behörden immer noch von einem „psychisch labilen Mann“, der laut der Ermittler in „Suizidabsicht“ gehandelt habe.

Selbstmordgedanken soll er gegenüber Dritten nicht geäußert haben

Bei der Durchsuchung der Wohnung des ledigen und kinderlosen Mannes sei unter anderem ein über einen Balken gelegtes Hanfseil mit Henkersknoten gefunden worden. Die Absicht, Selbstmord zu begehen, habe der Mann – entgegen anderslautender Berichte – vor der Tat jedoch weder dargelegt noch gegenüber Dritten in Nachrichten geäußert.

Das vorliegende Material über Jens R. – E-Mails, Briefe und abgelegte Lebensbeichten – zeichnet nach Medienberichten das Bild eines Mannes, der seit Jahren mit sich, seiner Familie und dem Leben hadert. Ein Leben, das es in den 90er- Jahren noch gut mit ihm meint. Als der in Madfeld bei Brilon groß gewordene Mann in Münster Design studiert, Preise bekommt für seine Entwürfe und wohl auch viel Geld verdient.

Ein Sturz im Treppenhaus verändert das Leben von Jens R.

Doch dann stürzt er schwer im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses, in dem er in Münster lebt. Es ist ein Unfall, der offenbar alles ändert. Die Operation an der verletzten Wirbelsäule habe man „verpfuscht“ schimpft er in mehreren Schreiben. Nun quälen ihn nicht nur schreckliche Rückenschmerzen, er verliert offenbar auch immer wieder den Bezug zur realen Welt, spinnt Verschwörungstheorien, bricht mit seinen Eltern, terrorisiert die Nachbarschaft.

R. wird kriminell, fällt auf. Sachbeschädigung, Unfallflucht, Bedrohung. Alles nicht schön, aber alles nicht schlimm genug für eine Gefängnisstrafe. Zumal die Prognosen der Behörden so schlecht nicht sind, wenn der Aktenvermerk vom 27. März stimmt, der dem „Spiegel“ vorliegt. Es wurde, schreibt ein Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dienst, mit dem R. in Kontakt stand, „zu diesem Zeitpunkt keine Eigen- und Fremdgefährdung festgestellt“.