Detmold. Die Opfer von Lügde kämpfen mit den Tränen, die Täter ringen sich Geständnisse ab: So lief der 1. Tag im Prozess um zigfachen Kindesmissbrauch.

298-mal soll „Onkel Addy“ auf dem Campingplatz in Lügde Kinder schwer sexuell missbraucht haben – und das ist laut Staatsanwaltschaft noch zu seinen Gunsten geschätzt. Mehr als ein halbes Jahr und fünf Stunden am ersten Prozesstag am Donnerstag in Detmold braucht Andreas V. (56), um sich zu einem Geständnis durchzuringen: 281 der Taten, die Richterin Anke Grudda „zweifelsohne abscheulich“ nennt, gibt er zu, ansonsten aber keine Antworten.

Irgendwo in Ostwestfalen haben 34 Kinder, Jugendliche und inzwischen auch junge Erwachsene darauf inständig gehofft. Dass „Onkel Addy“ endlich etwas sagt, damit sie selbst vor Gericht nichts mehr sagen müssen. „Meine Angst ist“, wird der Vater eines Opfers in der örtlichen Presse zitiert, „dass Andreas die Kinder absichtlich aussagen lässt, damit er sie noch einmal zu Gesicht bekommt. Das wäre das Schlimmste, was er ihnen jetzt noch antun könnte.“ Auch Opferanwalt Thorsten Fust sagt noch am Morgen, er hoffe inständig, „dass mein Mandant nicht aussagen muss“. Der soll missbraucht worden sein im Alter von elf bis 14 Jahren. Heute ist er 16, „da versteht er schon, dass sein Leben zerstört worden ist“.

Die junge Frau kämpft mit den Tränen

Möglich, dass nun auch Michaela V. ihrem Peiniger nicht mehr gegenüber zu treten braucht, die doch „endlich abschließen“ will. Und auch nicht die junge Frau, die vor dem Saal mit den Tränen kämpft: „Man versucht, stark zu

bleiben“, sagt sie, als ob es nicht um sie selbst ginge. „Man hat Zusammenbrüche.“ Es gebe „so viel, was man ihm hätte sagen wollen“. Was? „Riesenschwein.“ Und vor allem würde sie ihm gern diese Frage stellen: „Warum hat er das gemacht?“ Auf ihrem T-Shirt steht „Girls support girls“, Mädchen unterstützen Mädchen.

Um den Opfern den Auftritt als Zeugen zu ersparen, haben sich auch die beiden anderen Angeklagten Heiko V. (49) und Mario S. (34) entschlossen, die Vorwürfe einzuräumen. „Eine Wiedergutmachung ist nicht möglich“, sagt S., dem 117 Taten angelastet werden. An drei habe er „keine Erinnerung“, alle anderen nennt er selbst „schrecklich“ und „zu verabscheuen“. Ihm sei in der Untersuchungshaft bewusst geworden, „welches Leid ich den Kindern zugefügt habe“, lässt er über seinen Verteidiger erklären.

Der 34-Jährige hat als einziger den Fotografen direkt in die Kamera geblickt; kein Ordner vor dem Gesicht wie bei Andreas V., kein grüner Aktendeckel wie in Heiko V.s zitternder Hand. Ein Statement, wird sein Anwalt später sagen, „er steht zu seinen Taten“.

Der Hauptangeklagte von Lügde will 17 Vorwürfe streichen lassen

Andreas V. indes laviert. In einem Rechtsgespräch bittet er darum, 17 Vorwürfe zu streichen: Es sei schließlich nicht auszuschließen, dass Kinder die Täter verwechselt hätten. Mit einem grauen Pulli hat er den Saal 165 betreten, die Kapuze über den Stoppelschnitt gezogen, das Gesicht so grau wie seine Haare. Die Wangen sind eingefallen, auf seiner Brust steht die Bekleidungsmarke: „Uncle Sam“. Für die Kinder in seinem Wohnwagen war er immer „Onkel Addy“. Tags der gütige, der großzügige, nachts der grausame Andreas. Er blickt nicht ins Publikum, sieht starr zur Richterbank.

Was dem 56-Jährigen vorgeworfen wird, sei „erschreckend“, sagt die Vorsitzende der Jugendschutzkammer. Das ist keine Vorverurteilung, im Gegenteil: „Es gilt die Unschuldsvermutung“, mahnt Anke Grudda, auch wenn der lange Zeitraum, die Anzahl der Taten, die Vielzahl der Opfer und die „Art und Weise“ fassungslos machten. „Das lässt niemanden unberührt.“

Die Anklage ist „schwer zu ertragen“, sagen sogar Strafrechtler

Selbst gestandene Strafrechtler sprechen von „hartem Brot“ und einer Anklage, die „schwer zu ertragen“ sei.

Die Öffentlichkeit indes, seit Monaten mit immer mehr schmutzigen Details aus Lügde gefüttert, bekommt sie nicht zu

hören. Gleich zu Prozessbeginn wird das Publikum ausgeschlossen. Denn es stehen Namen, Adressen und alle schmutzigen Einzelheiten von schwerem sexuellem Missbrauch in der Anklage. „Oral, anal, vaginal“, sagt Opferanwalt Peter Wüller. „Schlimmer geht’s nicht.“ Wäre es in Lügde um Erwachsene gegangen, gäbe es dafür ein Wort: Vergewaltigung.

Heiko V. soll mehrfach via Webcam zugesehen, den Hauptangeklagten Andreas V. sogar noch ausdrücklich „zu sexuellen Handlungen“ ermutigt haben. Bei ihm fanden die Ermittler zudem 42.719 pornografische Foto- und Bilddateien von Kindern. Man müsse die Opfer schützen, sagt Richterin Grudda. Das sei wichtiger als das öffentliche Interesse. Sonst, findet Anwalt Wüller, „kann man den Kindern auch gleich ein Kreuz auf die Stirn malen“. Wüller vertritt einen fünf- und einen sechsjährigen Jungen, einer kommt im Sommer in die Schule.

Keine Details des sexuellen Missbrauchs

Der Vater will als Nebenkläger am Prozess teilnehmen, er findet, er sei das seinen Kindern schuldig. Noch sind diese beiden nicht in Therapie, ihre Aussage sollte nicht verfälscht werden. Nach den Geständnissen aber müssen sie gar nicht mehr erzählen, was die Männer mit ihnen gemacht haben auf dem Campingplatz. Heute wird ein erstes Mädchen kommen: die Freundin der Pflegetochter von Andreas V., das Kind, das das ganze Verfahren ins Rollen brachte.

Die Richterin wird ihre Robe ausziehen, die Angeklagten werden den Saal verlassen, sie werden reden, aber nicht über Details. Die Kinder sollen gezeigt bekommen, dass es gut war zu erzählen von Onkel Addy. „Dass man ihnen glaubt“, sagt Nebenkläger-Vertreter Roman von Alvensleben. Eine Zeugenaussage im juristischen Sinne muss das nun nicht mehr sein. Aber ein Prozess um Kindesmissbrauch, so von Alvensleben, „bei dem kein Kind erscheint, wäre auch komisch“.