Essen/Solingen/Düsseldorf. Der Essener Silvio K. wirbt jahrelang für salafistischen Terror. Er nennt sogar Anschlagsziele. Die Polizei durchsucht seine Wohnungen, lässt ihn aber gewähren. Jetzt sagt NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD), die Behörden hätten alles für die Sicherheit getan. Viele glauben ihm nicht.

Es gibt einige Versionen der Geschichte, wie aus dem Essener Salafisten Silvio K. ein weltweit gesuchter Terrorist werden konnte. Eine hat der Gotteskrieger selbst geschrieben, eine andere steuert NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) in einem Bericht an den Innenausschuss des Landtags bei. Nach WAZ-Recherchen liegt die Wahrheit ungefähr in der Mitte. Lesarten und Hintergründe einer Terror-Laufbahn.

Der Fall

Silvio K., 27, gebürtiger Sachse, kommt über den Bodensee nach Essen. Seine Gesinnung: erkennbar radikal. Seit 2011 verkehrt er mit gewaltbereiten Islamisten und verurteilten Terroristen, verbreitet Hetzschriften. Als er eine Todeshymne ins Netz stellt, befürchten Ermittler einen Anschlag. Seine Wohnungen werden durchsucht, Videos mit Terroraufrufen von El Kaida und Isis gefunden, auch ein persönlicher Aufruf zu einem Attentat auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Salafist zieht nach Solingen. Dort taucht er unter und setzt sich aus Deutschland ab. In Syrien schwört er den Treueeid auf den Chef der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Abu Bakr al-Baghdadi. K. ruft junge deutsche Muslime in die Schlacht und fordert Terroranschläge in Deutschland. Ein Ziel: das US-Atomwaffenlager Büchel in Rheinland-Pfalz.

Der Minister

Jägers Bericht an den Landtag ist zwölf Seiten lang. Zwei Seiten betreffen den IS-Terroristen. „Maßnahmen zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus“ seien bei K. „umfassend angewandt worden“, drei Wohnungen des Salafisten durchsucht worden, um „die umfangreiche radikal-islamistische Internetpropaganda zu verhindern“. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Wuppertal wegen der mutmaßlichen Beteiligung an den gewalttätigen Ausschreitungen gegen Polizisten am 1. Mai 2012 in Solingen seien eingestellt worden.

Die NRW-Behörden hätten versucht, K.s „fortgesetztes Werben um Unterstützer und Mitglieder“ von Terrororganisationen „zu unterbinden und strafrechtlich zu verfolgen“. Das LKA habe „unverzüglich, umfangreich, umfassend und zeitgerecht“ agiert, „alle verfügbaren Befugnisse und Möglichkeiten ausgeschöpft“. Jäger: „Die Propaganda von Silvio K. unterlag einer fortwährenden Bewertung.“

Abgestellt wurde sie nicht. Der Innenminister bestätigt, dass K. seine Hetze „trotz der gegen ihn durchgeführten strafprozessualen Maßnahmen fortführte“. „Operative Maßnahmen, zum Beispiel Verbleibskontrollen“ seien „bis zu seiner Ausreise im September 2012“ ergriffen worden. Es habe „keine Hinweise auf eine bevorstehende Ausreise“ von K. gegeben.

Der Terrorist

Silvio K. fühlte sich nicht nennenswert bedrängt. Das belegt ein Schreiben des Dschihadisten aus dem syrischen Kriegsgebiet, das der WAZ vorliegt. Darin spottet der IS-Kämpfer über die „Nachlässigkeit in Sachen Ermittlung gegen einen bekennenden Staatsgefährder“, wie er sich bezeichnet. K. schildert Details der polizeilichen Überwachung. Bei einer Wohnungsdurchsuchung habe er sich „komplett vor einem der Staatshunde entblößen“ müssen. Ein anderes Mal sei seine Frau beleidigt worden. Ein Fahnder habe der verhüllten Muslimin mit Blick auf alte Fotos gesagt: „Unbedeckt sehen sie doch viel besser aus.“ Die Frau von Silvio K. ruft bis heute zur Ausreise ins Kriegsgebiet auf: „In Syrien warten eure zukünftigen Ehemänner“, lockt sie. „Wandert aus.“

Silvio K. weist darauf hin, dass er seine radikale Gesinnung nie verleugnet habe. Auch nicht gegenüber Ermittlern. So habe er bei einer Vernehmung „auf dem Solinger Polizeipräsidium“ deutlich gesagt, dass er sich „auch mit einem Terroristen identifiziere“.

Die Pannen

Aus Sicherheitskreisen kommen Vorwürfe gegen das LKA. Die Behörde habe K. unterschätzt, Terrorbotschaften und Anschlagsaufrufe heruntergespielt. „Er wäre nicht ausgereist, wenn man mit dem Material gegen ihn offensiver umgegangen wäre“, sagt ein Eingeweihter. „Die radikale Propaganda von K. lief ungehindert weiter. Nicht eine Internetseite wurde gesperrt.“

Für den Islamischen Staat warb der Terrorist noch am 22. August, dem Tag, an dem Jäger dem Ausschuss berichtete. Da gab K. praktische „Ratschläge an jene, die wirklich auswandern wollen“: akribische Vorbereitung, absolute Geheimhaltung, verdeckte Internetzugänge, gezielte Täuschung von Familie und Freunden – das kleine Einmaleins für geneigte Kämpfer auf dem Sprung in den Dschihad.

Erst durch ein Foto in der WAZ wurde Mario S. identifiziert, ein Salafist aus Leverkusen, den die Ermittler verloren hatten. Das Bild wies ihn als Begleiter von Silvio K. aus. Mit K. und einem dritten, vermummten Kämpfer saß Mario S. im syrischen Sand – Seite an Seite, Kalaschnikow an Kalaschnikow.

Die Politik

Die Opposition ist besorgt. Die CDU hinterfragte das gestoppte Ermittlungsverfahren wegen der möglichen Beteiligung von K. an den Ausschreitungen am 1. Mai 2012 in Solingen. Wann es eingestellt wurde und warum es nicht zur Anklage kam, wollte sie wissen – und erfuhr: Weil K. längst über alle Berge war.

Laut Verfassungsschutz wurden die Akten am 6. Mai 2014 geschlossen, 20 Monate nach der Ausreise. Das nährt Zweifel bei der Landtags-CDU. Sie fragt: Gab es eine „Untätigkeit des LKA im Fall Silvio K.?“ Die FDP fordert eine strengere Beobachtung von Salafisten sowie ein „aktives Tätigwerden der zuständigen Behörden im jeweiligen Einzelfall“.