Ruhrgebiet. . Schüler mit Behinderung können in NRW seit Beginn des Schuljahres eine Regelschule besuchen. Das macht eine Realschule in Oberhausen schon länger.

Der Junge war störrisch, ja aggressiv, drohte Mitschülern auch schon mal mit einem wuchtigen Briefbeschwerer. Vor ein paar Jahren noch hätte ihm wohl die Versetzung auf eine Förderschule gedroht. Doch die Oberhausener Anne-Frank-Realschule betreibt seit zwei Jahren das, was man Inklusion nennt, und ihre Sonderpädagogen erkannten: Der Junge ist autistisch, erträgt keinen Lärm. Sie halfen ihm, sich zu konzentrieren, zu lernen. Nach der achten Klasse ging er dann tatsächlich ab. Auf ein Gymnasium!

Mit dem Beginn dieses Schuljahres haben in Nordrhein-Westfalen Kinder mit Behinderungen einen Rechtsanspruch darauf, eine Regelschule zu besuchen. In einem ersten Schritt betrifft dies die Klassen 1 und 5. Nun wird Wirklichkeit, was über Jahre diskutiert, von vielen gar befürchtet wurde. Doch wer den Schulalltag näher betrachtet, wird schnell feststellen, dass der Wandel weniger krass ausfällt als befürchtet. Schon jetzt besucht fast jeder dritte Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule. Denn viele Schulen haben längst freiwillig Inklusions-Klassen eingerichtet.

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Es ist 9 Uhr, in Klasse 7 d der Anne-Frank-Realschule steht Englisch auf dem Programm. Englisch bei Gabriele Hawig. Eine zierliche Frau, aber eine, die keinerlei Autoritätsprobleme zu haben scheint. Mucksmäuschenstill ist es, und das nicht nur in den ersten Minuten. Die 23 Kinder hängen geradezu an Hawigs Lippen. Immer wieder schnellen die Arme hoch, konkurrieren die Kinder, die Fragen der Lehrerin zu beantworten. Und für diejenigen, die nicht ganz so fix mitkommen, gibt es da auch noch Melanie Thum, die Sonderpädagogin. Unauffällig zieht sie von Tisch zu Tisch, um den Schülern mit kleinen Tipps weiterzuhelfen.

Zwei Lehrkräfte für 23 Schüler

Alltag in einer Inklusionsklasse. Zwei Lehrkräfte. 23 Schüler, von denen fünf lernbehindert sind, heißt, mehr Anleitung als andere brauchen. Ein sechstes Kind, Philippo, ist stark sehbehindert. 14 Stunden in der Woche begleitet die Sonderpädagogin Melanie Thum den Unterricht, sechs weitere Stunden werden durch andere Pädagogen abgedeckt. Und regelmäßig geht Melanie Thum mit ihren Schützlingen ein Stockwerk höher, in den Differenzierungsraum, um mit ihnen nachzuarbeiten. Philippo erhält zudem einmal pro Woche Unterstützung von einem blinden Sonderpädagogen, der ihm hilft, sich zu organisieren.

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„Mir und einigen Lehrern des Kollegiums hat die Idee der Inklusion gefallen“, sagt Ursula Niemann, die Rektorin der Anne-Frank-Realschule. Deshalb habe man sich freiwillig gemeldet. „Es war für uns ein Versuch. Nach einem Jahr war klar, dass wir es weitermachen würden.“

"Die Kinder sollen so normal wie möglich aufwachsen"

„Ich will sie alle halten!“, sagt auch Klassenlehrerin Gabriele Hawig und ergänzt: „Die Kinder kommen gut zurecht, und sie müssen ja auch irgendwann einen Beruf haben. Da ist es wichtig, dass sie so normal wie möglich aufwachsen.“

Melanie Thum, die Sonderpädagogin, unterrichtet nicht nur an der Anne-Frank-Realschule, sondern auch an einer Förderschule. Sie kennt den Vergleich, ist offen für Inklusion. „Der Unterricht an einer Förderschule verläuft ganz anders. Dort sind maximal zehn Kinder in einer Lerngruppe. Es geht viel langsamer voran, strukturierter und auch kuscheliger“, sagt sie. Es gebe Kinder, für die sei die Förderschule der bessere Weg zu lernen. „Aber gerade die beiden Mädchen in der 7 d sind sehr pfiffig, denen hat der gemeinsame Unterricht richtig was gebracht!“

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Die Kinder erziehen sich gegenseitig

In Gabriele Hawigs Klasse neigt sich die Stunde dem Ende zu. Wie es denn ist, gemeinsam zu lernen, fragen wir die Schüler. Und die antworten spontan, und unverblümt, so wie Selina: „Anfangs war es ein bisschen langsam, mittlerweile merkt man es nicht mehr, denn alle machen mit!“

Rektorin Niemann ergänzt später, die Kinder erzögen sich tatsächlich gegenseitig: „Es gab einen lernbehinderten Jungen, der mich ständig duzte, da wurde er von einem anderen gerüffelt, er solle damit endlich aufhören.“ Die so genannten Regelkinder beschützten die anderen. „Aber sie fordern auch etwas ein“, erklärt Lehrerin Hawig.

Auch bei den Eltern komme die Inklusion zumeist gut an. Viele von ihnen sähen den Vorteil der kleineren Klassen und der zweiten Lehrkraft. Niemann: „Sie schätzen aber auch, dass ihre Kinder soziales Verhalten lernen!“