150.000 Besucher der Extraschicht trotzen dem Regen
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Ruhrgebiet. . Auch das nasse Wetter vermochte die bunten Feuer im Revier nicht zu löschen. Die „Nacht der Industriekultur“ fanden die Menschen im Ruhrgebiet wieder “ergreifend schön“ und feierten ausgelassen. Auch wenn nicht ganz so viele kamen wie in den vergangenen Jahren.
In Bottrop, hat der Reiseleiter gesagt, machen Leute Picknick in der Kläranlage, „so was gibt’s auch nur hier“. In dieser Nacht allerdings nicht. In dieser Nacht, die dem Ruhrgebiet und seiner Industriekultur gehört, ist nämlich wieder Wasser im stillgelegten Becken. Es kommt von oben, was es sicher besser macht, aber nicht schön: Auch der Sommer-Dauer-Regen legte am Samstag eine „Extraschicht“ ein. Worauf mehr als 50 000 in Streik traten – die Zahl der Nachtschwärmer schrumpfte im Vergleich zu den Vorjahren auf 150 000, die aber schwärmen sogar von dieser Nacht.
Graues Wetter, bunte Schirme
Der Regen mag ihnen aus den Kapuzen getropft sein, von dort in die Schuhe und wieder hinaus – aber er hat es nicht geschafft, die 1000 Feuer an den 50 Spielorten zu löschen, die Millionen Lichter in 20 Städten und schon gar nicht die Leidenschaft. „Völlig schön und völlig ergreifend“, sagt etwa Stephan Haas zu später Stunde: Der ist zwar einer der Reiseleiter durch die Nacht, damit aber Industriekultur eigentlich gewohnt. „Sieh, der Wind treibt Regen übers Land“, haben da Tausende im Bochumer Ruhrstadion gerade angestimmt, der Chor steht sowieso im selben, na und? Das Wasser hat ja auch die Farben nicht weggewaschen, Schirme sind bunt und Funktionsjacken heutzutage auch.
Improvisationstheater reagieren spontan, spielen das Stück „Regenschirme am Bierstand“, und die Leute trinken sich ebendort ihre doch mal graue Heimat schön: „Kumma, Ruhrgebiet!“ Man erlebt schließlich Ecken bei der „Extraschicht“, die man noch nie sah oder nie in diesem Licht. In Bottrops Bernepark rückt eine Brassband am Bratwurststand zusammen, ein Kanalrohr duftet nach Malediven, während die Hochseilartistik, nun ja, zunächst ins Wasser fällt. Lichtinstallationen und Feuershows wärmen klamme Füße und leuchten Pfützen aus; die Menschen stehen eng zusammen: auch wieder typisch Revier.
"Mein Gott, was für eine Stimmung!"
„Mein Gott“, sagt Steven Sloane, „was für eine Stimmung!“ Der Generalmusikdirektor meint in diesem Moment Bochum, wo die Ostkurve des Stadions den „Triumphmarsch“ aus „Aida“ mitträllert. Wisse ja kaum einer, dass dieses „berühmte Fußballlied aus einer Oper kommt“. 70 Symphoniker sind zuvor mit ihren Instrumentenkoffern über den nassen Rasen geeilt, nun spielen sie Fanggesänge zum Mitsingen.
Der Himmel steht graublau über diesem neuen Ort der Industriekultur, der eigentlich ein Ort der Fußballkultur ist, aber was soll’s: Hauptsache Kultur. „Ich find’ ja das ,Steiger’ am besten“, sagt eine Frau, macht damit aber keinen Fehler, sondern meint das Lied, das sie gerade heiser gemacht hat. Auch wenn der Amerikaner Sloane hartnäckig sagt: „der Lied“.
Das Publikum wird auch danach noch bleiben oder weiterziehen, man staut sich schon wieder an den Bushaltestellen, steht stundenlang an für Führungen auf Türme, in Fabrikhallen, in unterirdische Gänge. In Gelsenkirchen spielen sie zur Lasershow am Kanal „Are You Gonna Stay The Night?“ – Wirst du diese Nacht bleiben? Bis zwei Uhr, Ehrensache, in Dortmund oder Duisburg, in Oberhausen oder Herten, wen kümmert schon das Wetter.
ExtraSchicht
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Nur die Bergleute, heute im Besucherstollen auf Zeche Nordstern. Ist nie abgebaut worden dort, „ist aber alles drin“, sagt ein Kumpel, und dann spinnen sie Bergmannsgarn im Schein der Grubenlampe und bei einer Thermoskanne Kaffee.
Inzwischen Industriekultur: Fotos vom Kumpel in Bergmannskluft
Von drei Kumpelgenerationen erzählt der Willi, der Gäste in die erste „Dahlbusch-Bombe“ klettern lässt, diese Rettungskapsel, die im Durchmesser nur 46 Zentimeter Bergmanns-Bauch fasste. Onkel Jotti ist auch da, der auf das „Bub, geh’ nicht inne Grub“ seiner Mutter nicht hörte und heute in Wohnungsverwaltung macht – das nennt man Strukturwandel.
Nacht der Industriekultur
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Onkel Jotti gehört zu den „Bergbaubekloppten“, trägt Kluft, und so viele haben ihn fotografiert in dieser Nacht, dass er, hätte er nur einen Euro genommen, Taschengeld hätte ein Leben lang.
Auch das ist wohl Industriekultur: ein echter Kumpel als Fotomotiv. Oder, wie Fremdenführer Haas sagt, „wenn im Ruhrgebiet was rumsteht, was man nicht gleich versteht, ist es meistens Kunst“.
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