Ruhrgebiet. Am zweiten Tag nach der Orkannacht wurde überall im Ruhrgebiet aufgeräumt – und viel geschafft. Doch es bleibt auch noch viel zu tun. Allein die Essener Feuerwehr fährt tausende Einsätze. In mehreren Städten organisieren sich private Hilfstrupps inzwischen übers Internet.
Man darf wohl annehmen, das Revier hat von Bayern gelernt; was in der Flut an der Donau 2013 richtig war, kann nach dem Unwetter an der Ruhr 2014 nicht falsch sein: In der Facebook-Gruppe „Essen packt an“ organisieren Markus Link und Simon Zimmermann seit Dienstag Muskelkraft, helfende Hände und Kettensägen. „Die Einsatzkräfte“, sagt Zimmermann, „sind ja total überlastet.“ Also schrieben sie an Freiwillige im Netz: „So können wir gemeinsam die Stadt wieder auf Vordermann bringen. Sei es ein vollgelaufener Keller oder ein Baum – Einer für Alle, Alle für Einen!“
Und so füllt sich im Netz am Mittwoch eine Karte, rote, leicht schiefe Tannen stehen für gänzlich gekippte Bäume, Sägeblätter für „Motorsäge wäre hilfreich“. Die färben sich im günstigsten Fall gelb und grün: abgearbeitet! „Jemand Zeit, mit mir in Frillendorf die Äste zur Seite zu ziehen?“, Haardtstraße „liegt voll mit Bäumen“, so geht es in der Gruppe, die über den Tag auf über 2000 Mitglieder anschwillt. Auch Bochum sammelt so virtuelle Anpacker, Fakten allerdings werden offenbar live geschaffen: „Das Netz brauchen wir nicht“, sagt ein Bürger, „wir schaffen das Chaos auch so.“
Gelsenkirchen klingt auf Facebook komplizierter: „Gelsenkirchen hilft sich nach dem Unwetter“, findet aber auch klare Worte: „Das Problem ist, das sind Riesendinger.“ – „Das heißt, man braucht ziemlich große Sägen.“ – „Kein Ding, hab ich.“ Sie posten Bilder der schönsten Scheren und Sägen unter die der schlimmsten Bäume.
Die Bäume sind weg: Ganze Stadtteile haben sich verändert
Viele davon sind am Tag zwei nach dem Sturm bereits geräumt, von vielen stehen die nackten, mit Gewalt gerissenen Stümpfe. Neue Perspektiven bietet das, auf Felder und Firmen, die man dahinter nie sah, ganze Stadtteile, die sich über ihre Alleen definierten, haben sich verändert. „Die Auswirkungen des Sturms werden wir aber noch in Monaten sehen“, ahnt Mike Filzen von der Feuerwehr Essen. Die arbeitet bis zum Mittag über 1000 Einsätze ab, aber es werden immer noch mehr; es riecht nach frischem Holz und Harz in der Stadt.
17.000 Bäume in Düsseldorf zerstört
Eigentlich sieht es am Mittwoch noch verrückter aus im Ruhrgebiet, noch unwirklicher. Die Straßen sind freier, gewiss: Aber selbst auf großen Straßen können noch ungesicherte Bäume quer liegen. Bizarr: der S-Bahnhof Eiberg, wo sich jetzt Bäume stapeln. Ein Baum, der in einer Schilderbrücke der A 40 hängt. Eine Baumkrone direkt im Hauseingang in Freisenbruch. Dass all das noch da ist 36 Stunden nach dem Sturm, 40 Stunden, 44, das beweist, wie groß er war.
Und, tatsächlich, in den Städten zerstörerischer als Kyrill: „Damals pfiff der Wind durch Bäume ohne Laub und der Regen fiel durch“, sagt Birgit Kaiser de Garcia vom „Landesamt für Umwelt“ in Recklinghausen: „Diesmal haben sie, voller Blätter, eine ganz andere Angriffsfläche geboten und der Regen machte die Laubkronen noch schwerer.“ In Mülheim wagen sie nach langem Unglauben inzwischen eine Zahl zu nennen: 20 000 Bäume sollen umgefallen, zumindest aber angebrochen sein – fast jeder zweite in der Stadt!
"Wir wussten vor lauter Ästen nicht, wo die Bäume sind"
Einen hat Timo Runde versucht zu zersägen, Dienstagfrüh im Stadtteil Heißen. Doch dann geriet sein Arm in die Motorsäge – der 22-Jährige ist einer von 15 schwer Verletzten in der Stadt. Nun liegt er im Krankenhaus, mit Gips und trotzdem froh: „Dass ich noch alles bewegen kann.“ Familie Pesch in Duisburg blieb unverletzt, dabei krachte ihr eine mächtige Eiche aufs Dach. Sie drückte den First ein, zog Risse bis ins Erdgeschoss – was sich erst zeigte, als man den Baum anhob. „Wir wussten“, sagt Waltraud Pesch, „vor lauter Ästen nicht, wo die Bäume sind.“ Die obere Wohnung, in der die betagte Mutter lebt, ist unbewohnbar.
Schwierig ist dieser Mittwoch auch für Menschen, die kein Auto haben, aber einen entfernten Arbeitsplatz. Sie finden angesichts des Totalausfalls Bahn neue Wege – oder auch nicht. Am Handy hört sich das dann so an: „Hallo Herr B.! Ich komm’ aus der Stadt nicht raus. Ich fahr zurück nach Hattingen.“ In Dortmund suchen die Leute hinterm Bahnhof ebenso vergeblich den Schienenersatzverkehr wie vorm Bahnhof ein Taxi, das bereit wäre, sich in den Stau nach Westen zu stürzen.
„Wir betreten Neuland“, sagen aber zwei junge Frauen, die in Bochum wohnen und in Essen arbeiten. Ihre Tour geht am Ende so: Bus 31, Stadtbahn 310, Bus 363, Straßenbahn 109, U 11. Dauert zwei Stunden 18 Minuten. Nur hin. Alltagstauglich ist das nicht. Freilich geben sich die Nahverkehrsunternehmen aber Mühe. Haben auf manchen ungestörten Linien den Takt verdichtet – wegen der gesperrten Strecken sind Wagen und Personal ja da. Haben Berater an alle größeren Haltepunkte gestellt, die haben gut zu tun: „Wissen Sie Bescheid? Ich hab heute schon mit so vielen gesprochen“, sagt ein Bogestra-Berater. Sein Service-Kleinbus hat die passende Aufschrift: „Für Menschen mit Zielen.“