Ankara. . Die Türkei trauert um die Opfer des verheerenden Bergbau-Unglücks in Soma: Die Flaggen im Land sind auf halbmast gesetzt, die Regierung hat eine dreitägige Staatstrauer beschlossen. Zugleich steigt die Zahl der Todesopfer immer weiter. In mehreren Städten protestieren Menschen gegen schlechte Arbeitsbedingungen seit der Privatisierung der Zechen. Gewerkschafter sprechen von „Massenmord“.

Eine dunkle Rauchwolke steht am Tag nach dem Unglück noch immer über dem Zechen­gelände in Soma, während Ange­hörige vermisster Bergleute hinter den Absperrungen verzweifelt auf Informationen warten. Hier, am Ort der Katastrophe, und auch vor einem Krankenhaus in der Nähe der Grube: „Warum sagt uns keiner, was genau passiert ist?“, fragt eine weinende Frau.

Der türkische Energieminister Taner Yildiz ist dann am Mittwoch zwar vor Ort, doch er bringt keine gute Nachricht mit. Er befürchte einen weiteren Anstieg der Opferzahl, sagt er. Die Hoffnung schwinde, noch Überlebende zu retten. „Es ist schlimmer, als zunächst er­wartet“, glaubt der Minister. Mehr als 200 Tote sind da bereits geborgen. Ein Kühlhaus, in dem sonst ­Melonen gelagert werden, wird als provisorische Leichenhalle genutzt.

Für Aufsehen sorgt auch ein Fernsehbericht: Unter den Opfern sei auch sein 15-jähriger Neffe, erklärt da ein Mann. Energieminister ­Yildiz widerspricht. Es sei „unmöglich“, dass ein 15-Jähriger in einem Bergwerk arbeite.

Arbeitsunfälle gehören zur„Natur der Sache“, sagt Erdogan

Der Bergmann Sami Kilic, der neun Jahre in der Zeche arbeitete und bei den Rettungsarbeiten hilft, sagt einem anderen Sender, bei einer Explosion unter Tage , wie sie in Soma offenbar passierte, funktioniere die Stromversorgung nicht mehr. Ventilatoren könnten nicht mehr arbeiten, der Luftstrom werde unter­brochen. „Auch wenn die Männer Masken haben sollten, wird eine Rettung schwierig. Die Masken, die wir erhalten haben, reichten nur für 45 Minuten Frischluft. Aber innerhalb von 45 Minuten kann man nicht die eineinhalb Kilometer nach oben kommen.“ Er persönlich ­rechne in der Grube von Soma mit bis zu 400 Toten.

Ministerpräsident Erdogan sagt am Mittwoch eine geplante Reise nach Albanien ab und besucht stattdessen den Unglücksort. Er trifft gegen Mittag mit einer großen Delegation an der Zeche ein und spricht mit Angehörigen der Kumpel. Man werde das Unglück „bis ins letzte Detail untersuchen“, verspricht der Premier. Eine dreitägige Staatstrauer ist da bereits angeordnet, alle Fahnen im Land wurden bereits auf Halbmast gesetzt.

Aber Arbeitsunfälle seien auch „normal“, ergänzt Erdogan noch vor Ort, sie gehörten „zur Natur der Sache“. Schon vor vier Jahren hatte er nach einem Grubenunglück erklärt, der Tod gehöre nun mal zum „Schicksal“ des Bergmannsberufs.

Viele Zechen arbeiten mit Leiharbeitsfirmen zusammen

Grubenunglücke sind in der Türkei tatsächlich keine Seltenheit. In den vergangenen Jahren wurden hier zahlreiche Zechen privatisiert. Zwischen 2002 und 2012 kamen mehr als 1000 Bergleute ums Leben. Das folgenschwerste Unglück der vergangenen Jahrzehnte ereignete sich 1992 in einem Bergwerk in der ­Provinz Zonguldak. Dort starben bei einer Gasexplosion insgesamt 263 Menschen.

Die Gewerkschaften werfen der Regierung vor, sie dulde einen laxen Umgang mit den Sicherheitsvorschriften. Neben technischen Mängeln gilt auch der weit verbreitete Einsatz von Subunternehmern als riskant. Viele Zechen arbeiten aus Kostengründen mit Leiharbeitsfirmen zusammen, die häufig schlecht ausgebildete Arbeitskräfte ein­setzen. Die Gewerkschaften kritisieren, damit würden die Zechenbetreiber die Tarifverträge umgehen.

Förderkosten von 130 auf 24 US-Dollar reduziert

Auch in der Grube von Soma ­habe es „ganze Ketten“ von Subunternehmern gegeben, sagte der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes DISK, Kani Beko. Er warf der Regierung vor, die Zahl der Opfer in den ersten Stunden nach der Katastrophe kleingeredet zu haben und sprach von einem „Massenmord“ in den Bergwerk: „Alles was zählt, ist der Gewinn.“

Nach Angaben des Arbeitsministeriums wurde die Mine zuletzt am 17. März inspiziert, ohne dass es ­Beanstandungen gab. Der Minenbetreiber, das Unternehmen Soma Kömür Isletmeleri A.S. erklärte, das Unglück habe sich „trotz strikter Beachtung aller Sicherheitsvorkehrungen und ständiger Kontrollen“ ereignet.

2012 hatte sich der Besitzer des Unternehmens, Alp Gürkan, in einem Interview gebrüstet, seine Firma habe die Förderkosten in der vom Staat übernommenen Zeche von rund 130 Dollar pro Tonne auf 24 Dollar gesenkt, berichtete die Zeitung „Hürriyet“. Als einen ­Faktor für die Kostensenkungen soll Gürkan damals genannt haben, dass die Firma die elektrischen Transformatoren selbst herstelle statt sie zu importieren. Ausgerechnet die elektrische Anlage erwies sich jetzt als Schwachpunkt.

Jährliche Förderleistung: 5,5 Millionen Tonnen Kohle

Die Soma Holding ist mit einer jährlichen Förderleistung von 5,5 Millionen Tonnen einer der größten Kohleproduzenten der Türkei. Vor der Hauptverwaltung der Firma in Istanbul versammelten sich am Mittwoch Demonstranten. Sie ­bewarfen das Gebäude mit blutroter Farbe und schrieben das Wort ­„Mörder“ an die Fassade. In Ankara setzte die Polizei Wasserwerfer gegen De­monstranten ein, die vor dem Energieministerium protestieren wollten.