Jagnaya. . Sechs Wochen nach dem Taifun Haiyan leben noch Hunderttausende Menschen auf den Philippinen in provisorischen Auffanglagern. Vorsichtig beginnt der Wiederaufbau, aber er wird Jahre dauern. Nach Sturm und Sturmflut droht nun sozialer Sprengstoff.

Auf den ersten Blick ist das Lager der Heimatlosen ein Kinderparadies. Sie lassen Windvögel steigen zwischen weißen Zeltreihen, haben erstmals seit Wochen wieder genügend Wasser, um sich prustend und spritzend zu waschen, und tollen überhaupt mit ungezählten anderen Kindern herum. Da hinten stehen sie an Mamas Hand in langen Schlangen treppauf und treppab, um notgeimpft zu werden gegen eventuell aufziehende Seuchen, und hier vorne ist ein Raum, naja, ein abgegrenztes Stück Wiese unter einer großen Plane, wo Helfer ab und zu therapeutische Spiele mit ihnen spielen nach dem ganzen Schrecken. „Schön, dass wir jetzt so ein großes Haus haben“, sagt ein Junge.

Auf den zweiten Blick ist dann gerade Alarm bei den Notärzten, weil ein kleines Mädchen in einem unkontrollierten Lagermoment Spiritus aus einer Flasche getrunken hat. Auf den dritten Blick sieht man die Väter, die keine Arbeit mehr haben, und begegnet jener Mutter, die offenbar willens ist, sich zu prostituieren in der Not: „Wo willst du hin . . . Hast du Zeit?“

Ein Baum im zweiten Stock

„Evakuierungszentrum“ heißen diese Orte auf den philippinischen Inseln Panay, Leyte und Samar: Zeltlager, umfunktionierte Hochschulen oder Gebäude der katholischen Kirchen, in denen Hunderttausende leben und noch lange leben müssen. „Der Wiederaufbau wird lange brauchen“, sagt Christoph Dehn, der Auslandsvorstand der Kindernothilfe (KNH). Denn wo der Taifun Haiyan durchzog, sind die mittleren Philippinen ein Trümmerhaufen, der nicht durch Höhe, Verzeihung, imponiert, sondern durch Ausdehnung. Jemand hat ausgerechnet: ein Gebiet, so groß wie Portugal.

Dies ist ein beliebiges Dorf: 60 Prozent der Häuser zerstört, der Rest beschädigt. Das da muss die Tankstelle gewesen sein, es steht nur noch das Schild „Petron“. Überlandleitungen liegen neben der Straße, Kinder spielen damit; Strommasten hängen in der Landschaft wie Mikado-Stäbchen im Fallen, und ein entwurzelter Koloss von Baum bewohnt nun die Büros des ehrenwerten Jose Diocera („Attorney at law“). Im zweiten Stock, versteht sich. Man kann fahren, fahren und fahren und es hört nicht auf: eingestürzte Kirchen, Laster, die alle Viere von sich strecken, zerschlagene McDonalds. Leerstellen, wo Kitas standen. Alles zerstört, verheert, verwüstet . . .

Und doch!

Sozialer Sprengstoff

Da ist ein Klang auf den Inseln, es ist die Sinfonie des Wiederaufbaus. Sie hämmern und nageln, schrubben und hacken, sägen, sortieren, türmen auf. Unser Dorf soll wieder werden! Er sehe „ganz viel Lebenswillen“, sagt Dehn. Und doch wird KNH beistehen müssen, wenn sturmfeste Häuser, Kitas und Schulen aufgebaut werden. „Unser Fokus liegt dabei auf den Kindern“, sagt Dehn. Mit den Entwurzelten planen sie erste neue Wohnhäuser in Gruppentreffen.

Alle Menschen sind gleich, und so setzt sich gerade niemand in die vorderen Reihen in diesem Klassenzimmer in Jagnaya; hinten ist dafür Gedrängel. Vorne steht der Nothelfer Kurt Behringer (60), ihm gegenüber sitzten 60 oder 70 Erwachsene, die vereint, dass sie alles verloren haben. Es ist dies so eine Art Wiederaufbauparlament, das gemeinsam beschließen wird, welche Häuser wo für wen wieder entstehen, für 2000 Dollar pro Haus aus Hilfsgeldern. „Good morning every . . .“, ruft Behringer, die Endsilben der Begrüßung gehen unter im Knattern eines Hilfshubschraubers draußen. „Good morning“, grüßen die Menschen im Chor zurück.

„Frauen bauen die besseren Häuser“

Im Dörfchen Jagnaya sind 46 Häuser weg und 20 beschädigt, und wenn Behringer nicht gut aufpasst in den nächsten Wochen, dann gibt der soziale Sprengstoff der Gemeinschaft den Rest. Ist es gerecht, zerstörte Häuser durch neue zu ersetzen, beschädigte aber nur zu reparieren? Was ist mit den Häusern von Auswärtigen? Von Fortgezogenen? Aber wenn alle eines kriegen, dann sinkt der Standard – die Gesamtbausumme steht ja fest. Und soll man überhaupt wieder so nah am Meer bauen? Schließlich war es vor allem die Sturmflut, die Jagnaya zerschlug. Fragen über Fragen, nächste Woche wird man sich wieder treffen, und bis dahin, schlägt Behringer vor, sollen die Männer ihr ideales 36-Quadratmeter-Haus entwerfen und die Frauen ihres. „Frauen bauen die besseren Häuser“, sagt er. Funktionaler, familiengerechter.

Nach gut einer Stunde ist das erste Treffen vorbei. Die Kinder aus dem Dorf haben draußen gestanden, haben sich in der Tür gedrängelt, durch die Fensterhöhlen geschaut, und wenn man zurückschaute, dann versteckten sie sich. Wie es Kinder tun. Ach, sagt der Schulleiter, er würde gerne so schnell wie möglich wieder mit Unterricht beginnen. Aber das geht nicht. Es leben ja jetzt Leute in der kleinen Schule, Leute ohne Dach.