Kigali. . Veny Nyirakamana überlebte nur durch ein Wunder den Genozid in Ruanda. Eine Selbsthilfegruppe der deutschen Kindernothilfe half ihr, ins Leben zurückzufinden und mit den Feinden Frieden zu schließen.

Der rot lackierte Schrank ist das einzige, was ihr geblieben ist aus der Zeit, in der ihr Leben noch ein glückliches war. Der rote Schrank in ihrem Lehmhaus und das Foto an der Wand. Es zeigt Veny im eleganten weißen Kleid, ihre erstgeborene Tochter Marcella im Arm haltend und dicht daneben, im Anzug, ihren Ehemann. Ein leichter roséfarbener Schimmer liegt auf dem Bild, verleiht ihm einen Hauch von Kitsch.

Damals, 1992, ahnte Veny noch nicht, welches Grauen über ihr Land, über Ruanda, kommen würde. Ein Massaker, das knapp einer Million Menschen den Tod bringen würde. Auch Venys Familie. Dass sie selbst überlebte, mehr tot als lebendig, grenzt an ein Wunder.

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Bezaubernd ist dieses Land, überbordend grün und hügelig. Und um so schwerer fällt es, sich vor dieser Kulisse das Gemetzel vorzustellen, das die Macheten vor gerade einmal 18 Jahren anrichteten. Als die Volksgruppe der Hutus gegen die der Tutsis aufbegehrte, sich brachial rächte dafür, dass diese über Jahrzehnte von Kolonialmächten und Regierungen bevorzugt worden waren. Es war ein Blutrausch. Einer, der knapp 100 Tage währte. Unter den Augen der UN, die ihre Soldaten längst im Land hatte, unter den Augen der Welt, die das Unfassbare via Fernseher verfolgen konnte.

Auf der Flucht vor den Hutus

Als der Terror begann, an jenem 7. April 1994, war Veny Nyirakamana 21 Jahre alt. Sieben Tage zuvor hatte sie Fabiola, ihre zweite Tochter, geboren. Es ging Veny nicht gut, kurz nach der Geburt. Doch ihr Mann, der für die Caritas in einer anderen Provinz arbeitete, hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Auch Jahre später fällt es Veny schwer, über das zu reden, was dann geschah. Über den Schwiegervater, den sie zuerst fand, erschlagen, in seinem Blut liegend. Davon, wie sie ihre Kinder packte, eins auf den Arm, das andere in eine Tasche. Wie sie panisch flüchtete und nicht wusste, wohin.

Die Killer waren gekommen, sie kannten kein Erbarmen. Veny versteckt sich mit den Kindern im Wald, kommt bei Freunden unter, bis diese sie nicht mehr schützen können. Wieder kehrt sie in den Wald zurück. Mitten in der Regenzeit, ohne Schutz. Tage, Nächte voller Angst und Hunger. Als ihre Verfolger, die die Tutsis ausrotten wollen, Hunde auf ihre Spur setzen, entscheidet Veny, sich auf den Weg in das Dorf ihrer Kindheit zu machen.

Sie selbst wird fast tot geschlagen

Dort angekommen, zu Fuß und geschwächt, erfährt sie, dass viele ihrer Verwandten längst tot sind. Die Mutter lebt noch, kümmert sich fortan um Venys Kinder. Veny erzählt das alles beinahe murmelnd, in langsamen Sätzen, zwischen denen sie Pausen macht, als ob sie Kraft sammeln müsste für den jeweils nächsten. „Ich weiß nicht, wie es geschah. Aber sie fanden mich, schlugen mich fast tot“, sagt sie. Veny also liegt da, stark blutend aus vielen Wunden. Und wieder gibt es jemanden, der ihr hilft. Ein Freund ihres Vaters, ein Soldat, der auf Seiten der Hutus kämpft. Er versteckt sie in einem Erdloch, zeigt ihr, wie sie sich selbst Spritzen setzen kann. Wenig später büßt er dafür mit dem eigenen Leben, hingerichtet als Kollaborateur.

So viele Opfer wird es noch geben, bis die RPF, die von Tutsis gegründete Ruandisch-Patriotische Front, die Ausschreitungen im Juli 1994 beenden kann. Auch Venys Großmutter, ihre Schwestern und Brüder werden noch sterben. Am Ende überleben nur Veny und drei ihrer elf Geschwister. Ihren Mann wird sie nie wieder sehen, auch dessen acht Geschwister nicht. „Als ich zurückkehrte, in das Dorf, in dem ich mit meinem Mann gelebt hatte, hatten sie gerade mit den Beerdigungen begonnen. Überall lagen Tote, manche von Hunden angefressen, manche von ihren Mördern einfach in die Toilettengruben geworfen. Oft blieb uns nichts anderes als sie dort zu begraben“, erinnert sich Veny.

Der Neuanfang nach dem Genozid

So mechanisch wie sie das heute erzählt, muss sie damals weitergemacht, weitergelebt haben. Funktionierend. Allein für ihre beiden Töchter. Menschen, die Veny schon länger kennen, wissen, dass sie ihre Geschichte noch nie so erzählt hat, noch nie in einem Stück. Sie wissen auch, dass ihre Jüngsten, zwei heute zwölfjährige Jungen, nach einer Vergewaltigung geboren wurden. Doch das in Venys eigenen Worten zu hören, verstört sie zutiefst.

All ihr Elend in dürre Sätze verpackt. Mit nichts fing Veny damals wieder an. Das Haus zerstört, die Kühe getötet, die Ernte vernichtet. „Wir hatten keine Hoffnung!“, sagt sie. Keine Hoffnung und oft nicht mehr als eine Mahlzeit am Tag. Das sollte sich erst ändern, als eine Mitarbeiterin des ruandischen Missionswerks African Evangelistic Enterprise (AEE) an ihre Tür klopft. Eine Organisation, die gemeinsam mit der deutschen Kindernothilfe gerade begonnen hatte, sogenannte Selbsthilfegruppen aufzubauen.

Die Selbsthilfegruppe als Start in ein neues Leben

Gruppen von 15 bis 20 Frauen sind das, die fit gemacht werden, sich selbst zu organisieren. Damals vor allem die Witwen mit ihren Kindern, die der Völkermord zurückgelassen hatte. „Ich dachte, ich könnte niemals neben jemandem sitzen, der getötet hat, neben jemandem, vor dem ich Angst gehabt habe“, erinnert sich Veny. Tatsächlich wurde es ein langer, schwerer Prozess. Was primär darauf gerichtet war, diese Frauen auszubilden, sie anzuleiten zu sparen und sich gegenseitig Kredite für eine neue Existenz zu geben, geriet zum Akt der Versöhnung.

„Wir haben zu reden begonnen, über unseren Schmerz, und es gab Leute, die uns um Verzeihung gebeten haben. So lernte ich, mit den Tätern freundlich zusammen zu sein“, sagt die heute 39-Jährige. Mit der Gruppe ging es für sie auch ökonomisch wieder bergauf. Veny nutzte die Kredite, ihr Haus und den Kuhstall wiederaufzubauen. Sie begann, nun auch psychisch stabiler, als Erzieherin zu arbeiten.

Heute spricht sie als Präsidentin der Föderation für die Frauen von 337 Gruppen, vertritt deren Interessen gegenüber der Regierung. Und Veny glaubt wieder an die Zukunft: „Wir müssen vergeben, auch wenn es nicht leicht ist. Damit die Menschen in Ruanda wieder in Frieden miteinander leben.“