Gelsenkirchen. Gönül Sarican (33) ist Türkischlehrerin und organisiert Schüleraustausche. Nurcan Ulupinar (28) studierte Islamwissenschaften, trägt Kopftuch und ist Jugendleiterin der umstrittenen Milli Görüs. Ein Streitgespräch
Gönül Sarican und Nurcan Ulupinar engagieren sich für das Zusammenleben der Kulturen in Deutschland. Beide nennen das „Integration” – dabei ist ihre Interpretation so unterschiedlich wie ihr Äußeres. Mit den türkischstämmigen Akademikerinnen sprach WAZ-Redakteurin Tina Bucek über Heimat, Gleichberechtigung und das Kopftuch.
Wie fühlt es sich an, wenn eine Türkin ohne Kopftuch heute in Deutschland eine Türkin mit Kopftuch trifft?
Ulupinar: Ich finde das überhaupt nicht komisch. Es ist für mich eine ganz normale Situation, mit der ich täglich zutun habe. Dass Frau Sarican kein Kopftuch trägt, stört mich nicht.
Sarican: Das geht mir genauso. In meinem Unterrichtsalltag erlebe ich diese Situation jeden Tag mehrmals. Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass es für deutsche Studierende ein Problem ist, mit türkischen Mädchen mit Kopftuch umzugehen. Dafür ist das hier in Deutschland schon viel zu normal. Bei uns am Kolleg ist es sowieso nur eine Minderheit von türkischen Frauen, die Kopftuch trägt.
Aber das Kopftuch sagt ja etwas: Die Trägerin trägt es nicht ohne Grund. Sie, Frau Ulupinar, tragen es, Sie, Frau Sarican, nicht . . .
Die Kopftuchträgerin
Nurcan Ulupinar ist in Gelsenkirchen geboren, besuchte dort die Gesamtschule.
Sie studierte Islamwissenschaften und Soziologie an der Uni Bochum und in Ägypten und ist europaweite Jugendleiterin der umstrittenen Milli Görüs, die vom Verfassungschutz beobachtet wird. Ihren Job als Grundschul-Lehrerin musste sie aufgeben – auch, weil sie darauf bestand, Kopftuch zu tragen.
Ulupinar: Aber ich trage es ja nicht, weil ich möchte, dass sich andere türkische Frauen, die es nicht tragen, schlecht fühlen. Ich denke, die Sache mit dem Kopftuch ist eine ganz individuelle Entscheidung. Ich habe mich mit 16 Jahren entschieden, das Kopftuch zu tragen. Ich habe zwei Schwestern, die haben sich anders entschieden. Und ich verstehe mich gut mit ihnen.
Sarican: Für mich war das Kopftuch nie ein Thema Ich trage es nicht. Ich beobachte aber an meinem Schülerinnen, dass die Sache nicht so einfach ist. Einige sind in ihren Familien großem Druck ausgesetzt. Sie tragen das Kopftuch, aber was es eigentlich bedeutet, das wissen sie oft nicht. Es wird ihnen ein Rollenbild aufgeprägt, das ihrem Innenleben nicht entspricht.
Ist das auch ein Grund, warum Sie sich für junge Mädchen, Menschen allgemein engagieren?
Ulupinar: Ich sehe Orientierungslosigkeit. Ich sehe junge Musliminnen, die in der deutschen Gesellschaft aufwachsen, ein Kopftuch tragen, sich die existentiellen Fragen aber nicht stellen. Sie tragen das Kopftuch, obwohl sie sich mit dem Glauben nie wirklich auseinandergesetzt haben. Sie fühlen sich auch ein stückweit verloren. Ich habe diese Erfahrung früher selbst gemacht: Wie das ist, ausgegrenzt zu werden. In der Grundschule kamen die deutschen Kinder um acht Uhr, die türkischen Kinder um neun. Man war immer irgendwie anders. Und wer man wirklich ist, wo man hingehört, erfährt man nicht.
Sarican: Nein, das kann ich nicht bestätigen. Ich habe ganz gegenteilige Erfahrungen gemacht: Ich bin als junge Migrantin in Deutschland immer gefördert worden. Wenn ich in der Grundschule zu anderen Terminen kommen musste, als die deutschen Kinder, dann war das, weil ich speziellen Förderunterricht bekommen habe, der mir sehr geholfen hat.
Die Kopftuchgegnerin
Gönül Sarican wurde als Tochter türkischer Gastarbeiter in Gelsenkirchen geboren.
Sie besuchte hier die Grundschule, das Gymnasium und studierte u.a. Türkisch auf Lehramt an der Uni Essen. Heute ist sie Lehrerin am Emscher-Lippe Kolleg in Gelsenkirchen und Mitglied im Förderverein für Städtepartnerschaften. An ihrer Schule organisiert sie Schüleraustausche mit der Türkei.
Auf dem Gymnasium wurden meine Türkischkenntnisse positiv verstärkt, was mich sehr motiviert hat, an der Uni Essen Türkisch auf Lehramt zu studieren, und es dann Muttersprachlern und Nicht-Muttersprachlern beizubringen. Das ist mir sehr wichtig: Dass auch deutsche Jugendliche die türkische Sprache als eine Sprache von mehreren kennenlernen. Kulturelle Annäherung und Verständnis funktioniert über Sprache.
Ulupinar: Aber das ist es doch nicht nur. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit in den Moscheen besteht darin, die jungen Mädchen zum Selbstdenken zu erziehen. Ich lebe in Deutschland, ich bin hier zuhause. Aber ich möchte hier auch mit meinem Glauben zuhause sein dürfen. Glauben und glauben lassen. Ja, Annäherung funktioniert über gegenseitiges Verständnis. Die Eigenheiten des jeweils anderen sollten aber akzeptiert und als Chance für die Gesellschaft verstanden werden.
Diskussion: Das Kopftuch - individuelle Entscheidung oder ein Zeichen für Nicht-Integration?