Ruhrgebiet. . Gabriele Hartmann aus Herne wird im Oktober nach Berlin reisen, um vor dem Bundestag von den Problemen Behinderter zu berichten.
Manchmal will sich Gabriele Hartmann was gönnen. Wie neulich. Als sie nach Castrop fuhr. Sie wollte zu Jürgen Drews. Mit dem Rollstuhl ist das eine Himmelfahrt. „Egal, aber als ich die steile Rampe sah, die ich hoch gemusste hätte, dachte ich: Hilfe, da kippst du doch hinten rüber.“
Sie fuhr wieder zurück nach Herne. Ziemlich geknickt. „Man fühlt sich vom Leben ausgeschlossen.“ Dass sie trotzdem gut drauf ist, liegt daran, dass sie mit anderen Behinderten in den Bundestag eingeladen ist. Sie hat den Bundes-Behindertenbeauftragten so lange belagert, angeschrieben, angerufen, dass sie nun dabei ist und erzählen soll, was Behinderte erleben. Am letzten Oktoberwochenende geht es los. „Ich hab’ schon eine Kurzzeit-Pflege vorbestellt. Da haben die vom Bundestag natürlich auch ganz schön komisch reagiert, als die hörten, dass ein Hotel für mich ja nicht reicht. Was haben die sich denn gedacht?“
Gabriele Hartmann sitzt seit 23 Jahren im Rollstuhl, zig Krankheiten haben sie da reingebracht. Sie kriegt kaum Luft, deshalb braucht sie Sauerstoff. Eine Krebserkrankung hat sie auch noch hinter sich. Und die Trennung von ihrem Partner. Sie ist komplett auf sich allein gestellt, lebt in einer kleinen Wohnung, um die vierzig Quadratmeter, wo im Schlafzimmer hinterm Vorhang der 44-Liter-Tank mit dem Sauerstoff steht. Dafür, dass sie den nicht selbst abfüllen muss, hat sie fast ein Jahr gekämpft – und vor Gericht Recht bekommen. Jetzt macht das der Pflegedienst.
Fahrpläne, die zu hoch hängen
Seit 23 Jahren tut sie alles dafür, den Anschluss nicht zu verlieren. Und es passiere ja überall was. In Herne wurde das Rathaus für 280 000 Euro behindertengerecht umgebaut. Hartmann will nicht meckern, „aber im Aufzug ist eine Bekannte von mir trotzdem mit dem Rolli stecken geblieben.“ Und sie selbst konnte ins WC zwar rein, aber nicht raus. „Weil ich nicht wenden konnte. Und das Waschbecken war statt der 55 Zentimeter nur 45 Zentimeter tief.“ Sie kam nicht dran. „Aber man hat versprochen, das nachzubessern.“
Es gibt immer noch die Arztpraxen ohne Rampen, Geldautomaten, die so hoch angebracht sind, dass man nicht an die Tastatur kommt, Fahrpläne, die so hoch hängen, dass man sie nicht lesen kann. Das ist alles nicht schön. Aber was ihr ans Herz geht, ist das ewige Abgewimmeltwerden. „Eine Beratungsstelle nennt einem wieder eine Beratungsstelle, und dann landet man wieder bei der ersten Beratungsstelle. Am Ende ist man dann noch selbst die Nervensäge.“
Dabei sei sie diejenige, die genervt ist. „Gucken Sie doch nur mal!“ Gabriele Hartmann fährt über den großen Fußgänger-Überweg am Bochumer Hauptbahnhof. Die Bordsteine sind super flach gelegt. „Eigentlich behindertengerecht. Aber!“ Sie fährt hin, sie fährt her. Rumpelt herum an der Bordsteinkante. Und kommt nicht rüber. Sie rollt fast zurück auf die Straße, wo die Autos längst grün haben. Passanten bleiben stehen, sagen: „Das gibt’s doch nicht.“ Und Gabriele Hartmann sagt: „Doch.“
"Es sind diese schäbigen Kanten"
Bis sie überhaupt zum Hauptbahnhof gekommen ist! „Selbst die Niederflurbahnen sind schwierig. Es sind diese schäbigen Kanten, darüber kommt nicht jeder Elektro-Rolli.“ Wenn sie mal abends unterwegs ist und nicht die richtige Bahn fährt, „stehe ich komplett auf dem Schlauch“. Selbst ein Taxi ist Illusion. „Erstens kann ich mir das von meiner kleinen Rente nicht leisten, und zweitens muss man so eine Behindertenfahrt ja lange im Voraus anmelden.“
Baustelle Bahnhof
Wo ist das nächste Klo? Ist es für Behinderte zugänglich? Ist es abgeschlossen? Wo gibt es den Schlüssel? Das ist ein Fragenkatalog, der vor jeder Unternehmung abgearbeitet werden muss, selbst wenn Gabriele Hartmann nur auf einen Kaffee ins Café fährt.
Wenn sie angekurvt kommt, gucken die Leute. Es müssen die Tische verrückt, die Stühle zur Seite gestellt werden. Ihr bricht der Schweiß aus. An Toiletten will sie erst gar nicht denken. „Gut, dass ich meine Wassertabletten nicht genommen habe.“
Aber Gabriele Hartmann ist wenigstens im Moment richtig guter Laune. Sie fährt ja nach Berlin. „Wenn ich da Hilfe brauche, muss ich eben Leute anquatschen.“
Was bleibt ihr anderes übrig.