Essen. Der Hauptbahnhof – ein Ort, an dem alle Schichten der Gesellschaft aufeinander treffen. Viele sind Pendler oder auf der Reise. Und für einige Menschen ist der Bahnhof der Lebensmittelpunkt. Ihre Anlaufstelle ist die Bahnhofsmission.

An der einen Hand hält er seine Tochter, mit der anderen Hand hält er seinen Ausweis fest umklammert. Sie warten an der Theke. Warten auf die Hilfe der Bahnhofsmission in Essen. „Möchten sie etwas trinken?“, fragt Wolfgang Bösenberg, der auf der anderen Seite der Theke steht. Doch die beiden verstehen ihn nicht. Sie können kein Deutsch, auch kein Englisch. Und Polnisch spricht in der Bahnhofsmission leider niemand. Bösenberg auch nicht. Er versucht es mit einer Handbewegung zum Mund, die Beiden verstehen jetzt, nicken zum Dank, nehmen den Tee entgegen und setzen sich an einen der drei hellen Holztische, auf denen kleine blaue Plastikdecken liegen und Primeln in Plastiktöpfen stehen. Das Mädchen riecht an der Blume. Bösenberg bringt ihnen einen kleinen Teller voll Gebäck.

Bahnhofsmission Essen

Die Bahnhofsmission ist eine ökumenische Einrichtung, die von Diakoniewerk und Caritasverband getragen wird.

Drei hauptamtliche und 40 ehrenamtliche Mitarbeiter arbeiten in der Beratungsstelle in Essen. Täglich suchen zwischen 60 und 100 Menschen die Bahnhofsmission auf. Grundsätzlich ist sie für jeden Menschen da, der während seines Aufenthalts im Hauptbahnhof Hilfe braucht.

Seit acht Jahren hilft der 65-Jährige Bösenberg in der Bahnhofsmission mit. „Manchmal weiß ich auch nicht so richtig, warum ich das hier eigentlich mache. Aber ich weiß, dass diese Menschen Hilfe brauchen“, sagt er. Früher war er Pfarrer. In Rente gehen wollte er erst mit 75. Doch dann wurde er krankheitsbedingt zwanzig Jahre früher pensioniert. Ganz aufhören wollte er jedoch nicht. Nach zwei Jahren hatte er seine Krankheit überstanden und meldete sich bei der Bahnhofsmission als ehrenamtlicher Helfer. “Irgendwie sind es doch meine Leute, die hier arbeiten. Und es sind auch meine Leute, die hier Hilfe suchen.“

Niemand weiß, wie lange die Polen schon unterwegs sind. Bekannt ist nur: Sie wollen nach Marl, wurden unterwegs ausgeraubt und haben nun weder Geld noch Fahrkarten. Bösenberg ist grob informiert. „Wir hatten schon manche traurigen Fälle, bei denen man zuerst dachte, dass man noch helfen kann, aber letztendlich war nichts zu machen“, erzählt er. Wie es mit den beiden weiter geht, weiß er noch nicht.

„Der macht schon seit mehr als zwanzig Jahren Platte"

Der polnische Vater und seine Tocher haben den Teller Gebäck aufgegessen und die Kleine verharrt seit einer guten halben Stunde in der gleichen Position. Den Kopf auf die Hände gestützt, die Finger auf den Ohren. Da meldet sich ein Angestellter der Kirche, in der sie zuvor Hilfe gesucht hatten. Die Kirche übernimmt das Geld für neue Fahrkarten. Die Praktikantin wird losgeschickt, um die Tickets zu kaufen. Vater und Tochter sind erleichtert, bedanken und verabschieden sich.

Es klingelt. Ein Obdachloser kommt die Treppe hoch. Er war zuvor bei der Essensausgabe der Essener Tafel und hat eine Plastiktüte voller Lebensmittel dabei. Bösenberg kennt ihn schon lange. „Der macht schon seit mehr als zwanzig Jahren Platte. Jeden Dienstag kommt er hierher.“ Selbstverständlich bekommt der ältere Mann einen Tee über die Theke gereicht. Damit setzt er sich an einen der Tische und fängt an sorgfältig die Lebensmittel zu kontrollieren. Stück für Stück packt er sie in seinen Stoffbeutel.

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern hat meine Oma immer gesagt. Und jetzt habe ich täglich mit ihnen zu tun und das macht mir auch noch Spaß“, sagt Bösenberg und schüttelt den Kopf. „Schon in meiner Zeit als Pfarrer habe ich viel geholfen“, erzählt er, „doch ich bedaure sehr, dass ich es damals fast nie geschafft habe, dass auch nur ein Einziger es jemals hundertprozentig zu einem normalen Leben gebracht hat.“

Es klingelt. Kurz darauf betritt eine junge Frau den Raum. Alle kennen sie hier. Es ist Manuela, die bereits seit fünf Jahren in die Bahnhofsmission kommt. Heute braucht sie Unterstützung bei einem Telefonat. Ein eigenes Telefon besitzt sie nicht. „Auf der Arbeit haben sie mir das Portemonnaie geklaut, jetzt ist mein Ticket weg“, sagt sie. Die Jugendhilfe kann ihr eine neues Bahnticket besorgen, doch dafür muss sie telefonieren.

"Wenn du nichts hast, dann bist du auch nichts"

Früher, vor fünf Jahren, als sie gerade 16 Jahre als war, verließ Manuela ihre Heimat, eine Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets, und kam nach essen. Damals war sie „ganz tief unten“, wie sie sagt. Drogenabhängig und ohne festen Wohnsitz . „Ich wollte da einfach weg“, erzählt sie. Ein Freund empfahlt ihr dann den Weg zur Bahnhofsmission. „Als ich das erste Mal hier rein kam, habe ich mich schon geschämt. Bei uns, da hieß es immer, wenn du nichts hast, dann bist du auch nichts.“

Heute ist das anders. Sie schämt sich nicht mehr in die Bahnhofsmission zu kommen. In den Raum mit dem großen blauen Kreuz an der Wand und der hölzernen Wand mit der Theke, die Personal von Hilfesuchenden trennt. „Hier in der Bahnhofsmission, die haben mir echt geholfen“, sagt sie. Beim Entzug, bei der Wohnungs- und Möbelsuche und bei Behördengängen. Seit drei Monaten geht Manuela jetzt arbeiten. Bei einem Garten. Und Landschaftsbau-Unternehmen. Ihr Stundenlohn: 1,25 Euro. „Aber besser als nichts und vielleicht kann ich dort auch noch einen Ausbildungsplatz bekommen.“ Mit ihrem Freund wohnt sie in einer 60-Quadratmeter-Wohnung. „Mein Freund und ich, wir haben immer zusammen gehalten. Mal mit und mal ohne Essen. Heute haben wir inzwischen eigentlich alles, sogar eine Waschmaschine, dafür habe ich selber gespart.“

Es klingelt wieder. Zwei ältere Frauen kommen die Treppe hinauf, sie haben eine Kleiderspende dabei und zehn Euro. „Ich kann das Geld ja doch nicht mitnehmen. Wenn ich tot bin, habe ich ja auch nichts davon“, sagt die eine Frau. Und dass sie sich besser fühlt, auch wenn sie nur einen kleinen Teil zur Hilfe beitragen kann. Dann gehen die Beiden.

Auch für Wolfgang Bösenberg ist die Schicht vorbei. Hinter ihm schließt sich die Türe und er betritt den Bahnhofsvorplatz, die andere Welt. Es ist kalt draußen, der Wind pfeift. Getümmel am Bahnhof. Die Blicke auf den Boden gerichtet, laufen die Menschen an ihm vorbei. Wolfgang Bösenberg verschwindet in der Menge.