Detmold. . Entführt und erschossen wurde die 18-jährige Krudin Arzu Öl, weil ihre Familie ihre Liebe zu einem Deutschen nicht akzeptierte.

Sie weint. Sie schlägt sich scheinbar verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Sie macht lange Pausen, als ringe sie um Fassung, bevor sie ansetzt, die nächsten Worte ihres Geständnisses vom Blatt abzulesen. Am Morgen dieses Prozesses hat Sirin Ö. eine Erklärung zu ihrer toten Schwester Arzu abgegeben: „Ich liebe sie. Das wird auch immer so sein!“ Doch alles, was die 27-Jährige sagt, wirkt schal, ja, wie inszeniert. Denn keine einzige Träne ist zu sehen, kein Taschentuch vonnöten.

In der Nacht zum 1. November des vergangenen Jahres wurde Arzu Ö. aus der Wohnung ihres Freundes entführt und ermordet. Arzu, das junge Mädchen aus Detmold, Tochter einer kurdischen Migranten-Familie. Ihr einziges Vergehen war es, sich in den falschen Mann verliebt zu haben. Nicht in einen Angehörigen der jesidischen Glaubensgemeinschaft, wie es die Tradition vorschrieb, wie es der Ehre der Familie verlangte, sondern in Alex, den deutschen Bäckergesellen.

Seit Montag stehen fünf Geschwister Arzus vor dem Landgericht Detmold, angeklagt der Geiselnahme und, drei von ihnen zumindest, auch des Mordes. Bald ein halbes Jahr hatten sie, allesamt in Untersuchungshaft, geschwiegen. Nun, am ersten Verhandlungstag, legten sie überraschend ein Geständnis ab. Osman, der Jüngste von ihnen, der 22-Jährige, er habe Arzu erschossen. Er sei, wie er selbst es beschreibt, „außer Kontrolle geraten“, habe sie mit zwei auf ihrer Schläfe angesetzten Schüssen getötet. Irgendwo in einem Wald bei Hamburg sei das geschehen.

Sirin also erzählt. Sie erzählt die Geschichte einer liebenden Schwester. Einer, die als Älteste immer für die anderen da war. Die das Familien-Management übernommen hatte. Die sich um alles kümmerte, von den Hausaufgaben der Kleinen bis zu den Finanzen der Großfamilie. Einer scheinbar beispielhaft integrierten Familie. Angesehen. Tüchtig. Geschätzt. Die Kinder machen die Mittlere Reife, versuchen sich am Fachabitur, gehören der Freiwilligen Feuerwehr an, gelten als zuverlässige Mitarbeiter. So wie Sirin, die als Verwaltungsangestellte bei der Stadt Detmold arbeitet.

Kleine bunte Pillen und blaue Briefe

Sie zeichnet von sich in diesen ersten Stunden vor Gericht das Bild der großen Schwester, die zu Arzu ein enges Verhältnis gehabt habe. Ja, sie habe Arzus Ausschweifungen sogar lange gedeckt, sie vor den Eltern geheim gehalten. Den neuen Freund, der nicht sein durfte, dass Arzu plötzlich nach Alkohol roch, dass es da angeblich plötzlich Drogen gegeben habe, „kleine, bunte Pillen“ und auch den blauen Brief von der Schule.

Als die Situation dann im Herbst eskaliert, als Arzus neue Liebe in der Familie auffliegt, als sie vom Vater und vom Bruder Osman deshalb grün und blau verprügelt wird, eingesperrt in den Keller, als sie dann vor der Familie flüchtet und untertaucht, da habe sie, Sirin, nur ein Ziel gehabt: „Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, sie zurückzuholen. Unter allen Umständen!“

Sie lässt nichts unversucht, Arzu aufzuspüren, die in ein Frauenhaus geflüchtet ist. Schnüffelt in den Dateien der Stadt, ob sie sich umgemeldet hat oder sich bemüht, ihren Namen zu ändern. Ruft bei Sozialversicherungen an, schreibt Arzus Anwältin, insistiert bei Arzus Freundinnen, bei Alex und dessen Mutter. Alles, so wie sie sagt, um Arzu zurück in die Familie zu holen.

Arzu, die unter neuem Namen - Emily Ostermann – und mit blondem Kurzhaar tatsächlich ein neues Leben beginnen will, schafft es jedoch nicht, sich von ihrer großen Liebe, von Alex, fernzuhalten. In der Nacht zum 1. November sind die beiden noch leichtsinniger als sonst, sie übernachtet in seiner Wohnung, unweit ihrer Familie, vor der sie geflohen ist, die sie in der Türkei mit einem Cousin verheiraten will.

Prügelnund treten

Und spätestens jetzt wird Sirins beschworenes Bild von der liebenden Schwester brüchig. Anstatt Arzu in Alex’ Wohnung allein aufzusuchen, sie von der Rückkehr zu überzeugen, taucht Sirin dort mit ihren vier Brüdern auf. Einige tragen Masken. Osman hat eine Pistole. Sie brechen Türen und Fenster auf, prügeln und treten. Sirin selbst zerschlägt dem sich ebenfalls wehrendem Alex eine Bierflasche auf dem Kopf. Sie verschleppen Arzu, töten sie schließlich.

Schmal und attraktiv, die Locken zurückgebunden, sitzt Sirin auf der Anklagebank. Daneben ihr Anwalt, daneben, im Wechsel, ihre vier Brüder und deren Anwälte. Sympathische junge Leute, könnte man meinen. Und das dachten sie auch alle im Detmolder Stadtteil Remmighausen. Und doch haben sie gemordet. Für ihre Familie. Für ihre Religion. Für eine vermeintliche Ehre.