Ruhrgebiet. .

Neue Wendung im Steinfraß-Skandal: Nach WAZ-Recherchen wurde ein Gutachten, das den Bröselstein-Hersteller Haniel schwer belastet, nachträglich korrigiert – zugunsten des Konzerns. Der nachgeschobene Teil spricht Haniel davon frei, vorsätzlich Millionen fehlerhafter Kalksandsteine in Umlauf gebracht zu haben. Genau diesen Verdacht nährte das Gutachten. Die überarbeitete Fassung könnte für Haniel Millionen wert sein.

Beide Dokumente, Ursprungsversion und Korrektur, liegen der WAZ vor; beide stammen aus ein und derselben Feder: von dem Rechtsanwalt Jürgen Witte. Es ist der Mann, der heute die Interessen der Firma Xella vor dem Duisburger Landgericht vertritt.

Gutachten belastet Haniel

2006 hatte Witte ein umfangreiches Rechtsgutachten gefertigt. Für den Haniel-Konzern, der sämtliche Steinfraß-Folgen zahlt, fiel es bedenklich aus. Die Auslieferung ungeprüfter Bröselsteine, trotz Warnungen des Bundesverbandes, sei „mindestens fahrlässig“, urteilte der Jurist. „Eigentumsverletzung nicht ausgeschlossen“, „Verjährung nur schwerlich nachzuweisen“, „sittenwidrige Schädigung sehr naheliegend“ – das Haftungsrisiko schien gewaltig. Weil seit dem Produktionsbeginn 1987 niemand vor den Steinen gewarnt habe, witterte Witte den Verdacht „auf einen bedingten Vorsatz“.

Korrektur des Gutachtens hilft Haniel

Jetzt taucht ein Widerruf dieser Beurteilung auf: ein Brief von Anwalt Witte, „persönlich/vertraulich“ gerichtet an den Chef der Xella-Rechtsabteilung. Unter der Datumszeile „14. Mai 2007“ steht: „Nach einer Befragung eines seinerzeit tätigen Mitarbeiters“ von Haniel sei ein vorsätzlicher Produktfehler „auszuschließen“. Die Steine seien doch geprüft worden. Nur: „Die Proben, die zur Analyse versandt worden sind“, seien „wohl nicht mit dem Material identisch“, das bei der Produktion eingesetzt wurde. Höchstens liege Fahrlässigkeit vor, Vorsatz aber auf keinen Fall.

Würde das Gericht dem folgen – es wäre gut für Haniel, und schlecht für Bröselstein-Opfer wie Mehmet Baygeldi. Der 73-Jährige hat 35 Jahre lang für sein Häuschen in Duisburg gearbeitet. Schwer gearbeitet. 1100 Meter unter Tage, im Schacht der Zeche Padberg in Kamp-Lintfort, legte der Hauer den Grundstein für seinen Lebenstraum. Mit dem Hauskauf 1991 hat er ihn sich und seinen vier Kindern erfüllt. Jetzt zerfällt der Traum vor seinen Augen. Im Keller lösen sich die Wände auf.

Lebenstraum wird zum Existenzkampf

Xella räumt ein, dass die maroden Steine von Haniel stammen. Die Beweisführung wurde dem Kläger erlassen. Der Kampf um sein Eigentum nicht. „Das ist alles, was ich habe; meine Existenz“, sagt Baygeldi. Von seiner kleinen Rente bleibt nach der Hypothek nicht mehr viel. Der kranke Mann zahlt einen hohen Preis, in jeder Hinsicht. Wie hoch er am Ende sein wird, darüber entscheidet auch das korrigierte Gutachten.

Für Haniel geht es um viele Millionen. Denn: Vorsätzliche Verstöße gegen das Produkthaftungsgesetz begründen Schadensersatz- und Wertminderungsansprüche; Fahrlässigkeit allein klammert den Wertverlust aus. Gemünzt auf den Fall Baygeldi hieße das: Haniel müsste vielleicht 165 000 Euro für die Sanierung zahlen, würde aber 90 000 Euro Wertminderung sparen.

Opferanwalt zweifelt – Xella schweigt

Der Duisburger Rechtsanwalt Stefan Kortenkamp schüttelt den Kopf. Er vertritt Baygeldi vor Gericht. Durch die WAZ erfuhr er von dem nachträglich berichtigten Gutachten. Das Papier erscheint ihm „zweifelhaft“. Dass Haniel „derartige Erkenntnisse aus 2007 erst heute vorlegt“, diese Vorstellung sei „völlig lebensfremd“. Kortenkamp: „Dann hätte das Unternehmen ja nie einen Schaden regulieren müssen.“ Warum das entlastende Papier erst jetzt zum Vorschein kommt und nicht 2007, als die WAZ „Erste Risse in der Haniel-Fassade“ aufdeckte, dazu schweigt Xella-Anwalt Witte. „Kein Kommentar“, sagt auch das Unternehmen.

Xella ist froh, die Schadensabwicklung los zu sein. Auch die hat nun Haniel am Bein. Damit steigt das wirtschaftliche Risiko für den Konzern.

700 neue Schadensfälle möglich

Es ist ohnehin sehr groß. Zu den von Haniel anerkannten rund 400 Fällen könnten 700 neue hinzukommen. Bei 360 Objekten räumt der Konzern schon „Veränderungen an den Steinen“ ein. Weitere 340 „fallen in das Zeitfenster und die betroffene Region“, bestätigt ein Sprecher. Wären diese Gebäude von Steinfraß betroffen: Der Gesamtschaden ginge an die 200 Millionen Euro. Im Schnitt kostete Haniel jeder Sanierungsfall bisher rund 175 000 Euro.

Steinfraß-Opfer brauchen Geduld. Haniel hat einen Berg von Gutachten vor der Brust. Die „priorisierten Fälle“ sollen „bis April“ abgearbeitet sein. Danach sind erste Sanierungen geplant. Wann sie beginnen, das liege an „den Wünschen der betroffenen Bürger“. „Mitte des Jahres“ will Haniel mit den restlichen Gutachten durch sein. Dann folgt die zweite Sanierungswelle.

Am 14. Juli geht der Baygeldi-Prozess in die nächste Runde. Viele weitere werden folgen. Allein am Duisburger Landgericht stapeln sich bisher 56 Verfahren gegen Xella.