Essen. Adveniat-Bischof Franz-Josef Overbeck zu den neuen Herausforderungen der 50 Jahre alten Lateinamerika-Hilfsaktion

In der Tradition der Ruhrbischöfe ist auch Franz-Josef Overbeck seit Februar vergangenen Jahres Chef der in Essen ansässigen katholischen Lateinamerika-Hilfsaktion Adveniat, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert. NRZ-Redakteur Thomas Rünker sprach mit Bischof Overbeck über die sich wandelnde Hilfe für einen sich wandelnden Kontinent.

Was bedeutet Lateinamerika für den Bischof von Essen?

Lateinamerika war „eine riesige Entdeckung für mich“, sagt Ruhr- und Adveniat-Bischof Franz-Josef Overbeck. Fotos: Matthias Graben / WAZ FotoPool
Lateinamerika war „eine riesige Entdeckung für mich“, sagt Ruhr- und Adveniat-Bischof Franz-Josef Overbeck. Fotos: Matthias Graben / WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Bischof Franz-Josef Overbeck: Da sich aus der zunächst einmalig geplanten Kollekte für die Menschen in Lateinamerika eine kontinuierliche Hilfe entwickelt hat, gibt es heute eine sehr lebendige Verbindung zwischen dem Ruhrbistum und Lateinamerika. So lebendig, dass ich sogar mein Spanisch wieder auffrischen musste. Für unser Bistum, das sonst schnell dazu neigen könnte, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, ist diese institutionalisierte Verbindung mit der Weltkirche sehr hilfreich.

Welchen Eindruck haben Sie durch Ihre Arbeit bei Adveniat von Lateinamerika gewonnen?

Overbeck: Es war eine riesige Entdeckung für mich, in diesen gewaltigen Kontinent einzutauchen. Ein Kontinent, der von immensen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern, vor allem von einem gewaltigen Armutsgefälle geprägt ist. Ich habe dort große Gastfreundschaft erfahren – und eine hohe Wertschätzung für Adveniat.

Was hat Adveniat dort bewegt?

Overbeck: Adveniat hatte von Anfang an eine klare pastorale Ausrichtung: Wir unterstützen all das, was mit dem kirchlichen Leben vor Ort zu tun hat. Anfangs ging es dabei vor allem um die Ausbildung von Priestern, später um Bildungsarbeit allgemein und den Aufbau einer Infrastruktur, zum Beispiel Kapellen, Gemeindezentren und katholische Radiostationen. Vor allem aber stehen die Armen im Mittelpunkt der Adveniat-Hilfe – weniger durch rein finanzielle Unterstützung als etwa durch Bildungsprogramme und durch Hilfe zur Selbsthilfe.

Ist die rein kirchliche Sicht nicht zu beschränkt, um die Menschen ganzheitlich aus der Armut heraus zu führen?

Overbeck: Ganz sicher nicht. Als Kirche werden wir - egal ob in Lateinamerika oder im Ruhrgebiet - nie alle sozialen Probleme lösen können. Aber wir sind die, die exemplarisch für diese Probleme mit einstehen. In Lateinamerika unterstützt Adveniat die Kirche vor Ort dabei, all den Problemen zu begegnen, die die Armut der Menschen mit sich bringt – und dabei gelingt es Adveniat auf herausragende Weise, die Situation der Menschen oft ganz konkret zu verbessern.

Ist ein Ende der Hilfen absehbar? Immerhin geht auch die Kollekte für Adveniat seit Jahren zurück.

Ein Ende der Hilfen für Lateinamerika sei nicht absehbar, so Bischof Franz-Josef Overbeck
Ein Ende der Hilfen für Lateinamerika sei nicht absehbar, so Bischof Franz-Josef Overbeck © WAZ FotoPool

Overbeck: Nein, ein Ende ist nicht absehbar - aber eine deutliche Verlagerung der Art der Hilfe, die nötig ist. In den vergangenen 50 Jahren haben sich manche Länder Lateinamerikas zu Schwellenländern entwickelt, die sich gänzlich selbst finanzieren und organisieren könnten – gäbe es nicht auch in diesen Ländern diese dramatischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Chile oder Argentinien etwa sind heute in weiten Teilen auf einem fast europäischen Niveau, und doch gibt es auch in diesen Ländern erschreckende Armutssituationen. Und in vielen anderen Ländern leben die Menschen nach wie vor in einer Armut, die wir uns hier gar nicht vorstellen können. Von daher ist nach wie vor noch viel zu tun, wobei es – wie gesagt - vor allem darum gehen muss, die Menschen zu befähigen, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Bildung ist da sicher ein zentrales Thema.

Was heißt das konkret?

Overbeck: Wir werden künftig weniger in Steine investieren, sondern noch stärker in das menschliche Miteinander. In unseren neuen Richtlinien für die Projektarbeit haben wir diese klare Orientierung auf die Armen noch einmal festgelegt. Gleichzeitig geht es aber auch um deutliche Zeichen der Solidarität - etwa mit der Kirche in Venezuela, die sich durch den Druck von Präsident Chavez in einer sehr prekären Lage befindet, aber die einzige freie Institution ist, die noch eine Stimme gegen diese diktatorischen Strukturen erheben kann.

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Ist der innerkirchliche Konflikt um die Befreiungstheologie heute beigelegt?

Overbeck: Es gibt immer noch einige wenige, die einer Form der Befreiungstheologie anhängen, gegen die Papst Johannes Paul II - vor allem aus seiner persönlichen Erfahrung mit dem Kommunismus heraus - sehr stark Position bezogen hat. Die meisten Theologen sehen nach meiner Einschätzung in der Befreiungstheologie heute eine konsequente „Option für die Armen“, die auf vielfältige Weise verwirklicht werden kann.

Spätestens seit der Befreiungstheologie steht die Kirche konsequent auf der Seite der Armen. Gilt das auch in Deutschland?

Overbeck: Ich werde als Ruhrbischof nicht müde, das Thema Armut auch bei uns zu thematisieren und dazu aufzufordern, diese Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Das gilt, auch wenn die Bedingungen hier wie dort natürlich sehr unterschiedlich sind – etwa angesichts eines im Großen und Ganzen gut funktionierenden Sozialsystems bei uns und einer dramatischen Marginalisierung ganzer Bevölkerungsschichten in Lateinamerika. Dass wir uns als Christen um die Armen sorgen, steht außer Frage. Als Bischof fühle ich mich da auch besonders gefordert und bin für alle Menschen da, die Gott suchen.

Und das unabhängig vom Einkommen?

Overbeck: Absolut!

Was kann die deutsche Kirche denn von Lateinamerika lernen?

Von der Volkskirchlichkeit Lateinamerikas könne die deutsche Kirche lernen, sagt Bischof Franz-Josef Overbeck
Von der Volkskirchlichkeit Lateinamerikas könne die deutsche Kirche lernen, sagt Bischof Franz-Josef Overbeck © WAZ FotoPool

Overbeck: Lateinamerika ist nach wie vor sehr volkskirchlich geprägt, etwa durch die Feier kirchlicher Feste, durch Wallfahrten oder die besondere Verehrung der Mutter Gottes. Da können wir lernen, wie man den Menschen den emotionalen, den Herzenszugang zum Glauben verschafft.

Also eine arme, aber zumindest heile katholische Welt?

Overbeck: Ganz und gar nicht. Ich sehe in Lateinamerika eine neue Form des Säkularismus aufkommen - ähnlich wie bei uns. Gerade große Teile der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger handeln dort, als ob es die christliche Botschaft der Nächstenliebe und die katholische Soziallehre nicht gäbe. Hier wie dort stellt sich für die Kirche die Frage, wie wir uns angesichts einer solchen Haltung positionieren. Auf der anderen Seite gerät die Kirche in Lateinamerika stark durch Pfingstkirchen und andere Bewegungen unter Druck, die die Menschen mit einem sehr charismatischen Ansatz ansprechen. Durch ein unmittelbares liturgisches Gemeinschaftserlebnis haben diese Gruppen oft großen Erfolg. In Guatemala etwa ist heute nur noch die Hälfte der Bevölkerung katholisch.

Kann denn die Kirche im Ruhrgebiet auch angesichts ihrer strukturellen Probleme von Lateinamerika lernen?

Overbeck: Wir leben in anderen Wirtschafts- und Sozialzusammenhängen; das macht einen Vergleich immer schwierig. Wenn man aber die Armut in Lateinamerika einmal konkret erlebt hat, dann sieht man schon, wie gut es uns hier – bei allen Problemen –geht. Im Vergleich jammern wir dann schon auf sehr hohem Niveau. Grundsätzlich sind die Lateinamerikaner in ihrem Denken viel freier, weil sich die Kirche und die Gesellschaft dort noch nicht über lange Jahre geordnet haben, sondern sich immer wieder neu ordnen müssen – während man sich bei uns ständig fragt, ob alles immer noch so ist, wie es früher war.

Als Sie im Februar auch zum Militärbischof für die Bundeswehr ernannt wurden, gab es Kritik an Ihrer neuen Doppelrolle, weil es problematisch sei, Militär und Lateinamerika-Hilfe zu verknüpfen.

„Zuerst und mit großer Freude“, sieht sich Bischof Overbeck als Bischof von Essen
„Zuerst und mit großer Freude“, sieht sich Bischof Overbeck als Bischof von Essen © WAZ FotoPool

Overbeck: Es war eine einzige Gruppe, die dies kritisiert hat. Hinter dieser Kritik steht aus meiner Sicht der Fehler, die Situation des Jahres 2011 mit derjenigen der 1970er- und 80er Jahren zu verwechseln. Damals herrschten in etlichen Ländern Lateinamerikas korrupte und hoch gewaltbereite Militärs. Das hat sich geändert. Für mich sind die Aufgaben bei Adveniat und in der Militärseelsorge heute zwei sehr unterschiedliche Aufgaben. Zum einen sorge ich mich um Menschen mit einer klaren verfassungsgemäßen Aufgabe, bei denen die Ausübung von Gewalt immer der allerletzte Punkt in einer sehr langen, gewissenhaften Entscheidungsfindung ist. Und zum anderen sorge ich mich mit Adveniat um Menschen, die von Armut betroffen sind.

Und dann sind sie noch Bischof von Essen.

Overbeck: Genau - und das zuerst und mit großer Freude. Aber es braucht schon eine strenge inhaltliche und zeitliche Arbeits- und Lebensorganisation, um alle drei Aufgaben angemessen und gemeinsam bewältigen zu können.