Essen. . In der Essener Kita „Am Brandenbusch“ wachsen behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam auf. Die Einrichtung war 2005 eine der ersten, die sich entschied, integrativ zu arbeiten. Mit guten Erfolgen bis heute.
Emmylou haut zu. Blitzartig schlägt ihre zarte Kinderhand mit voller Wucht der vierjährigen Bilge auf die Brust. Doch noch bevor das Mädchen auf den Angriff reagieren kann, ist Erzieherin Sandra Breuer bei den beiden angelangt. Mit ruhiger Stimme erklärt sie Bilge, dass Emmylou einen schlechten Tag hat.
Emmylou, das kennt Bilge schon, ist ein bisschen anders. Was das Wort „Downsyndrom“ bedeutet, weiß Bilge nicht. Aber sie weiß, dass Emmylou, das Mädchen mit den schräg stehenden Augen und dem mondförmigen Gesicht manchmal aggressiv wird, wenn sie sich aufregt. Ihre Spielkameraden aus der integrativen Kindergartengruppe akzeptieren das. Einfach so.
Die Kita „Am Brandenbusch“ in Essen-Bredeney war 2005 eine der ersten, die sich entschieden, integrativ zu arbeiten. Zehn nicht-behinderte Kinder wachsen hier mit fünf behinderten Kindern in einer Gruppe auf. Durch das tägliche Miteinander sollen Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden – oder gar nicht erst entstehen. In Zukunft, so will es die UN-Behindertenkonvention, sollen mehr behinderte Kinder nicht nur integriert, sondern von vornherein am Bildungssystem „inklusiv“ teilhaben – in an ihre Bedürfnisse angepassten Einrichtungen. Bislang gibt es jedoch kaum inklusive Schulen oder Kitas.
Die Kinder unterstützen sich hier
Wie wertvoll ein Miteinander von behinderten und nicht-behinderten Kindern für deren Entwicklung sein kann, zeigt die Kita in Bredeney. Hier haben sich der sechsjährige Sam und der fünfjährige Rik kennengelernt. Sam leidet unter spinaler Muskelatrophie. Er sitzt im Rollstuhl, kann seine Arme nur mühsam bewegen. Sein Kopf wirkt viel zu groß für den dünnen, verkümmerten Körper. Geistig ist Sam völlig fit, doch für vieles braucht er Hilfe. Dafür hat er Rik, denn Rik ist sein bester Freund. Beim Mittagessen sitzen die beiden nebeneinander und albern herum. So laut, dass Erzieherin Sandra Breuer beide mehrfach ermahnen muss, leise zu sein. Während Sam erst die Hälfte seines Tellers leer hat, essen die anderen Kinder schon Melone. Doch das macht nichts. Rik hat Zeit und wartet. Dann, als Sam fertig ist, und die letzten Kartoffeln auf seinem Teller zusammengekratzt hat, schiebt Rik Sams Kinderrolli einhändig zur Geschirrabgabe. Ohne sich groß abzusprechen, arbeiten die beiden im Team.
Dass die Kinder sich hier unterstützen, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie merken, wenn sie helfen können, meint Sandra Breuer. „Was die Kinder auf diese Weise an Sozialkompetenz lernen“, da ist sich die Erzieherin sicher, „das ist einzigartig.“
Kathrin Becker leitet die Kita und das dazugehörige Familienzentrum schon seit neun Jahren. „Ich denke, dass momentan viele Einrichtungen, die umrüsten wollen, sich vom Land noch sehr allein gelassen fühlen“, sagt sie. Zwar werde viel über das Thema geredet. Geschehen sei bisher jedoch wenig. Jene Einrichtungen, die sich bisher für eine Umstellung auf integrative Betreuung entschieden hätten, müssten zu vieles selbst regeln. Auch finanziell.
Die Kleinigkeiten des Alltags
So wie diese Grundschule in Essen-Werden, die sich bereit erklärt hat, Sam als erstes behindertes Kind aufzunehmen. „Die Schulleitung ist motiviert, aber verunsichert“, so Becker. „Die Schule hat im Prinzip nur uns, von denen sie erfahren kann, was Sam konkret wirklich braucht. Die Unterstützung vom Land, so wie sie jetzt ist, das reicht einfach nicht.“
Wie viel Unterstützung ein Kind wie Sam oder Emmylou braucht, zeigt sich in den Kleinigkeiten des Alltags. Nach dem Mittagessen geht es in den Waschraum. Die nicht-behinderten Kinder gehen alleine aufs Kinderklo und waschen sich danach die Hände. Emmylou muss auch aufs Klo. Sandra Breuer bringt sie auf das extra eingerichtete Kinder-Behindertenklo. Sina und Ben, zwei geistig behinderte Kinder, müssen gewickelt und gewaschen werden. Sandra lässt Emmylou deswegen kurz allein. Als sie zurückkommt, ärgert sie sich: Emmy hat Quatsch im Klo gemacht und sich beschmiert. Jetzt müssen nicht nur die Hände gewaschen werden, sondern die halbe Emmy.
Erst als alle Kinder endlich fertig und sauber auf den Kuschel-Matratzen liegen, kann Sandra Breuer durchatmen. „Es ist schon viel“, sagt sie. Auch mit drei Betreuern wisse man manchmal nicht, wohin zuerst. So eine Arbeit mache eben doch nur jemand mit entsprechender Motivation. Und nicht, weil die Politik es so wolle.