Essen. . Die Exoterik-Szene boomt: Der Verein Sekteninfo NRW verzeichnete 2010 einen drastischen Anstieg der Beratungen von Menschen, die in die Fänge von Gurus oder Geistheilern geraten waren. Instrumentalisiert wird auch die Japan-Katastrophe.
Der Mann versteht die Welt nicht mehr, bis heute nicht. Mit den Worten „Du bist mir spirituell nicht mehr gewachsen“ hatte seine Frau ihm nach zehn Ehejahren die Koffer vor die Tür gestellt. Sie fühlt sich berufen, der Menschheit zu helfen. Sie gibt jetzt „Engel-Seminare“.
Der Fall aus dem Kölner Raum hat die Berater des Sekteninfo NRW im vergangenen Jahr beschäftigt. Es ist ein Fall ohne Happy-End, die Ehe war nicht zu kitten. Der Streit ums Sorgerecht für die beiden kleinen Kinder ging vor Gericht. Die Persönlichkeit der Frau scheint völlig verändert, nachdem sie Linderung für eine chronische Erkrankung suchte und in die Fänge eines Geistheilers geraten war. In seiner Wohnung lernte sie Sitzungen kennen, bei denen man angeblich „Engeln“ begegnet, und entdeckte ihre Berufung, selbst so Sitzungen zu leiten.
Drastischer Anstieg der Beratungen
Die Esoterik-Szene boomt. „Meist sind es Frauen, die dort Halt suchen, und vieles, was angeboten wird, ist eben nicht harmlos“, sagt Beraterin Anja Gollan. Betroffene erleben eine Euphorisierung, geraten total in den Bann der Heilsversprechungen. Sie kappen ihr gesellschaftliches Umfeld und geraten in eine psychische Abhängigkeit. „Der Umgang mit Esoterik kann zu suchtähnlichem Verhalten führen“, so Sabine Riede, Geschäftsführerin des Sekteninfos.
Der Verein Sekteninfo NRW verzeichnete 2010 einen drastischen Anstieg der Beratungen (161 Fälle, +64 Prozent) von Menschen sowie deren Angehörigen, die in die Fänge von Gurus oder Geistheilern geraten waren. Insgesamt gab es 1296 Anfragen beim Sekteninfo – darunter auch wieder viele zur Scientology-Organisation.
„Fernbehandlung via Internet“
Mitunter geht es um Geld, viel Geld. Bei der Vorstellung der Jahresbilanz des Sekteninfos berichtete Riede gestern von einer älteren Frau aus dem nördlichen Ruhrgebiet, die sich an die Wunderheilerin Pia Thomas gewandt hatte. Thomas sitzt auf Mallorca, bietet aber „Fernbehandlungen“ an. Und dies schien der Seniorin als letzte Chance für ihren an einem Gehirntumor erkrankten Enkel, dem eine Chemotherapie nicht hatte helfen können. Das Kind starb – auch Pia Thomas konnte nicht helfen, kassierte aber für fünf „Behandlungen“ via Internet rund 15 000 Euro.
In einem anderen Fall fand eine Frau eine Wahrsagerin, die sie in einer Fußgängerzone kennengelernt hatte, so überzeugend, dass sie die Dame bei späteren Sitzungen für drei Rituale in Anspruch nahm – eines, das sie von einem Fluch befreien sollte, ein weiteres, damit es in der Ehe wieder besser läuft, und eines, das den Sohn von einer Krankheit heilt. Gut 10 000 Euro zahlte die Frau, geholfen haben die Beschwörungsformeln nicht, die Wahrsagerin ward nicht mehr gesehen.
Ganz klarer Betrug
„Die Frau, die sich selbst eigentlich als sehr rational bezeichnet, hat sich geschämt, zur Polizei zu gehen“, berichtet Beraterin Gollan. Beim Sekteninfo hat man ihr dennoch dazu geraten. „Fälle wie diese kann man ganz klar ‘Betrug’ nennen“, sagt Sabine Riede. Selbst wenn es schwierig ist, sein Geld zurückzuerhalten, weil die Täterin verschwunden ist – oder wie im Fall von Pia Thomas im Ausland sitzt: „Betroffene sollten immer zur Polizei gehen“, sagt Riede. Das sei wichtig auch fürs Selbstwertgefühl.
Dass Esoterik auch im laufenden Jahr beim Sekteninfo eine große Rolle spielen wird, zeichnet sich schon jetzt ab: Gurus und Endzeit-Fantasten versuchen, die Atomkatastrophe in Japan für sich zu nutzen. Sie addieren das Datum des Unglücks mit dem 11. September 2001 der Anschläge von New York und leiten daraus das Ende der Welt am 21. Dezember 2012 ab.