Dortmund, Januar 2011. . Dortmund. Unbekannte haben bei der Staatsanwaltschaft Eschweiler Fotos abgegeben, die Nazis bei der Hinrichtung von Juden zeigen. Jetzt machen sich Dortmunder Anwälte auf die Jagd nach den unbekannten Henkern.
Das Foto in der Hand von Andreas Brendel ist groß wie eine Zigarettenschachtel. Schwarz-weiß, angegilbt, gewellt und mit gezacktem Rand. Es zeigt einen Baum mit knorrigen Ästen. An jedem Ast hängen fünf oder sechs Menschen. Genau ist die Zahl der Gehenkten nicht erkennbar. Der Dortmunder Staatsanwalt ist einem NS-Verbrechen auf der Spur, das 70 Jahre zurückliegt.
Sowjetunion, Juni 1941. Auf einer Breite von 1600 Kilometern hat Hitlers Wehrmacht mit drei Millionen Soldaten das Land überfallen. Mit dem Unternehmen „Barbarossa“ will der Diktator „die europäische Kultur retten“. Im Spätherbst kommt der Schnee. Die Offensive rennt sich vor Moskau und im Kaukasus fest. Die Deutschen haben bis dahin den westlichen Teil von Stalins Riesenreich erobert und mit blankem Terror überzogen.
Dortmund, Januar 2011. „Dieses Foto hat mich persönlich berührt“, sagt Andreas Brendel. „Es reicht.“ Der 48-jährige Staatsanwalt sitzt im Büro am Rand der Dortmunder City. Aus dem Wandschrank hat er 50 Bilder geholt, „typische Feldfotos“. Das Foto vom Baum ist das zentrale Beweisstück. Ein anderes zeigt, wie ein Scherge die nackte Leiche eines jungen Mannes mit schwarzen Locken an den Ohren festhält. Dabei dreht er den Kopf des Toten in die Kamera. „Wahrscheinlich sind die Fotos aus der Anfangszeit von Barbarossa, zwischen Juni und November 1941“, sagt Brendel. „Es ist noch kein Schnee zu sehen.“
Eschweiler bei Aachen, Januar 2010. Im Briefkasten des Amtsgerichts liegt ein weißer, praller Briefumschlag. Es sind die Feldfotos, die ein Jahr später in Brendels Wandschrank verwahrt sind. Einen Absender gibt es nicht, nur die Erklärung, die Bilder seien „Anfang der 60er Jahre“ in einem Wohnhaus der Eschweiler Innenstadt gefunden worden, „bei der Renovierung“. Der anonyme Finder schreibt auf einem streichholzschachtelgroßen Zettel: „Bitte an einen Staatsanwalt abgeben. Habe diese Schweinerei damals nicht weitergegeben.“
Dortmund, Januar 2011. Wer sind die Täter? Gestapo? SS? Wehrmacht? Und wer sind die Opfer? Juden? Kriegsgefangene? Partisanen? Zivilisten? Wo spielte sich das Drama ab? Wann genau? Ist mit den 50 Bildern ein unbekanntes Massaker dokumentiert? Auch, was wichtig wäre als Schlüssel zum Puzzle: Wer war der Anonymus von Eschweiler? Viele Fragen. Keine Antwort. „Die Ermittlungen haben sich etwas totgelaufen“, sagt Andreas Brendel. Die wenigen Anhaltspunkte, die er hat: Eine Steppenlandschaft. Eine zerstörte Umgebung. Ein mehrgeschossiger Bau mit Bildern von Stalin und Lenin an der Fassade. Und immer wieder: Hinrichtungen, Beerdigungen, Menschen, die Gräber schaufeln. Die eigenen?
LKA Düsseldorf, 2010. Die Fahnder des Landeskriminalamtes versuchen, die Bilder zum Reden zu bringen. Gemeinsam mit Brendels Zentralstelle für die Aufarbeitung von NS-Verbrechen und dem Militärgeschichtlichen Institut Potsdam haben sie Vergrößerungen probiert, Experten befragt, Gesichter und Fälle abgeglichen und in Eschweiler nach einem Haus gesucht, das Anfang der 60er Jahre renoviert wurde. Sie haben kleine Erfolge: Lkw wie die auf den Fotos wurden im Osten 1941 eingesetzt. Bei einem ist das WH-Kennzeichen erkennbar. WH für Wehrmacht. Die fünf Ziffern daneben könnten eine wichtige Spur sein. Die übrigen sind verdeckt. Wahrscheinlich hat das Fund-Haus in der Nähe des Eschweiler Marktes gestanden. Aber viel wurde auch abgerissen seither.
LKA Düsseldorf, Januar 2011. Die Ermittler unternehmen einen seltenen Schritt. Sie suchen öffentlich Zeugen von Vorgängen, die 70 Jahre zurückliegen. Der Aufruf steht am 25. Januar im Internet mit zwei Fotos, die mutmaßliche Opfer, lebend noch, zeigen. Sie tragen einen hellen Stern. Presseberichte sogar aus Russland gehen daraufhin ein. Briefe, Mails, Ratschläge. Doch: Kein Zeuge meldet sich.
Jerusalem, in diesen Tagen. Beim Simon Wiesenthal Center verfolgt Efraim Zuroff die Arbeit der deutschen Ermittler, NS-Verbrechen aufzuklären, mit hohem Interesse. 130 neue Ermittlungsverfahren gibt es seit 2009. Lange Zeit schien es im Nachkriegs-Deutschland kaum den Willen zur Aufklärung zu geben. 250 000 Menschen waren am Holocaust beteiligt. Im Westen Deutschlands kamen 6498 vor Gericht, 1000 wegen eines Tötungsdelikts. Ganze 438 wurden zu lebenslang verurteilt. Jetzt, imponiert es Zuroff, gibt es ausgerechnet im Land der Täter den letzten großen Schub der Ermittlungen. Für ihn ist das eine Wende.
Dortmund, Januar 2011. Staatsanwalt Brendel freut sich über Zuroffs Wertschätzung. Er hat seinen Anteil daran. Dabei ist die Zeit, die er aufarbeitet, so lange her. Die „großen Täter“, älter damals schon, sind meist tot. Wen sie jetzt fangen, der war jung, mit wenig Befehlsgewalt. Auf einem der Bilder ist eine Massenerhängung an einem exakt zugeschnittenen Balken zu sehen. Das deute, sagt Brendel, eher auf die Vollstreckung eines Urteils nach einem „ordentlichen“ Kriegsgerichts- verfahren hin. Für Ankläger tut sich ein Ermittlungshindernis auf: Wer hier dabei war, der beging allenfalls Totschlag. Totschlag ist verjährt, ein Verfahren sinnlos. Die Sache mit dem Baum ist anders. Sie könnte juristisch Mord sein, sogar ein „grausamer“. Das ist ein wichtiges Kriterium. Und Mord verjährt nicht.
Dortmund, in diesen Tagen.
Die Fahnder haben sich, über die Internet-Bilder hinaus, noch nicht entschlossen, die entscheidenden, aber brutalen Fotos zu veröffentlichen. Das hat viele Gründe. Es geht um Datenschutz und darum, das solche Brutalität im weltweiten Netz viel auslösen kann. Vielleicht wird aber doch, irgendwann, die Veröffentlichung unumgänglich sein – im Interesse von Wahrheit und Gewissen: Es waren in anderen Fällen nicht selten sehr alte Leute, die Andreas Brendel erleichtert an der Wohnungstür begrüßten: „Ich habe 60 Jahre auf Sie gewartet“.