Essen. .

Am Freitagmorgen starb der ehemalige WAZ-Chefredakteur Siegfried Maruhn mit 88 Jahren. Ein Nachruf von Ulrich Reitz.

Nehmen wir also Abschied von Siegfried Maruhn, diesem gebildeten, weltzugewandten, hu­morvollen, souveränen Menschen, der nach einem 88-jährigen, erfüllten Leben vier Söhne hinterlässt und sieben Enkel und seine anmutige Frau Christine, mit der er 53 Jahre lang verheiratet war.

Maruhn war dankbar für dieses Leben. Was durfte er nicht alles erleben, dieser Spross einer alten ostpreußischen Familie aus Tilsit. Maruhn, der schnell schreibende Vollblutjournalist, leidenschaftlicher Reporter, nachdenklicher, fairer Leitartikler. Zuletzt, nach den 18 Jahren als Chefredakteur, noch einmal seinen Traum lebend: als USA-Korrespondent. Als er aus dem Vietnam-Krieg reportierte, war er schon stellvertretender Chefredakteur. Anfang 40 war er, als er in einen Starfighter kletterte, um durch den Grand Canyon zu fliegen (was heute verboten ist). Die Urkunde hängt daheim im Hausflur.

1963 wurde er von Bundespräsident Heinrich Lübke eingeladen, ihn auf eine Reihe von Staatsbesuchen in Persien, Indonesien, Japan und den Philippinen zu begleiten. Vier Wochen lang!

Erich Brost, Zeitungsgründer und ihr erster Chefredakteur, hatte Maruhn diese Reise nur zögernd genehmigt. Als Maruhn zurückkehrte, kurz nach der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy, „offenbarte er mir die Gründe für sein Zögern. Es hatte eine große Auseinandersetzung (mit Miteigentümer Jakob Funke) gegeben, die beinahe zum Ausscheiden Brosts geführt hätte.“

Maruhn machte für die mit den Jahren zunehmende Entfremdung zwischen den beiden Eigentümern deren unterschiedliche Naturelle verantwortlich. „Brost war abwartend, manchmal zögernd, er ließ sich mit seinen Entscheidungen und Eingriffen Zeit, beriet sich auch zunächst mit seinen leitenden Redakteuren. Funke war impulsiv und von schnellem Entschluss. Gefiel ihm etwas nicht, griff er ohne lange Überlegung zum Telefon und rief den jeweiligen Redakteur an“, was dann wiederum Brost nicht hinnahm. Kaum verwunderlich, dass die zwischen Brost und Funke vereinbarte Arbeitsteilung, Brost die Redaktion, Funke den Verlag, immer schlechter funktionierte.

Ressortleiter für 1100 Mark

Maruhn hat die bewegte Geschichte der WAZ nach seinen Erinnerungen auf 17 Seiten aufgeschrieben. Ein zeitgeschichtliches Dokument, das er mir bei unserem letzten Wiedersehen kurz vor Weihnachten, bei Kaffee und Kuchen und einem abschließenden Glas Champagner übergab.

„Ich kannte weder die WAZ noch das Ruhrgebiet“, erzählte Maruhn. Mit 29 Jahren, 1952, kam er zu unserem Blatt, als Ressortleiter Innenpolitik, für 1100 D-Mark, was „für die damaligen Verhältnisse schon recht anständig“ war. Erich Brost hatte den jungen Mann, der von der Neuen Zeitung kam, einer Gründung der drei westlichen Besatzungsmächte, einer „amerikanischen Zeitung für die deutsche Bevölkerung“, eingestellt. Damals war die Redaktion noch im Haus des früheren Bochumer Anzeigers untergebracht.

Jedenfalls erschien aus diesem Anlass auf der Titelseite der WAZ ein völlig ungewöhnlicher Artikel, der nicht gezeichnet ist, aber nur aus der Feder von Erich Brost persönlich stammen kann. „Den Namen wird man sich merken müssen“, heißt es schon in der Unterzeile zur Überschrift, die auf einem Aufmacherplatz (!) die Ankunft des neuen Innenpolitik-Chefs ankündigt. Und dann, im Text: „Dem neuen WAZ-Redakteur geben die Experten gute Chancen, einmal Erich Brosts Nachfolger als Chefredakteur zu werden.“ 18 (!) Jahre später kam es dann schließlich so.

Siegfried Maruhn gegenüber in der Bochumer „Redaktionsstube“ saß jedenfalls Werner Roloff, der Außenpolitiker, der, „wie die meisten anderen Redakteure schon für (NS-Reichspropagandaminister) Goebbels tätig gewesen“ war. Als Journalisten, erzählte Maruhn, hatten sie im Nationalsozialismus nur arbeiten können, wenn sie den Vorschriften der Reichspressekammer entsprachen. Wenn Erich Brost bisweilen auf die Vergangenheit seiner Redakteure angesprochen wurde, sagte er entschuldigend: „Es gab nun einmal keine anderen.“

Brost brachte skandinavische und britische Presse-Traditionen in die WAZ, der stellvertretende Chefredakteur Oskar Bezold, ein Vorbild für Maruhn, amerikanische. Und so predigte Bezold seinen Redakteuren, also auch dem Amerikafreund Maruhn, einen volkstümlichen, unterhaltsamen Stil, für den er folgendes Bild prägte: „Die Ruhrgebietsfrau träumt davon, dass ein Märchenprinz auf einem weißen Pferd über die Kohlenhalden geritten kommt, um sie zu freien . . .“

Die WAZ wurde 1948 als eine der letzten Zeitungen unter dem Lizenzverfahren der britischen Militärregierung als erste, ausdrücklich unabhängige Zeitung gegründet. Sie traf auf ein besetztes Feld. Im Ruhrgebiet mit seiner stark an Kohle und Stahl orientierten Arbeiterschaft hatten die so­zialdemokratischen Zeitungen ei­ne starke Stellung. Sie hatten je­doch, berichtet Maruhn, eine Schwäche, die sich „letztlich als verhängnisvoll erwies: Sie waren an die Organisationsstruktur der SPD gebunden“. Und jeder Parteibezirk wollte seine eigene Zeitung haben.

Im Westen des Reviers erschien die Neue Ruhrzeitung, im Osten die Westfälische Rundschau. Die Gründer Erich Brost und Jakob Funke entschieden sich anders. Die WAZ sollte als Klammer des Ruhrgebiets das gesamte Revier umfassen, obwohl Duisburg sich zur Rheinschiene, Dortmund zu Westfalen zugehörig fühlte. Die Grundsätze, auf die sich die Herausgeber einigten, gelten bis heute. Die Zeitung sollte unabhängig und überparteilich gestaltet werden, sie sollte entschieden sozial und antiautoritär sein. Das war Anfang der 50-er Jahre nicht selbstverständlich.

Erfolgsgeheimnis der WAZ war laut Maruhn aber nicht nur die strikte Trennung von Nachricht und Meinung, sondern der straffe, klare Nachrichtenstil, ein amerikanisches Erbe. Die WAZ wollte niemals eine Bild-Zeitung sein, aber auch keine Frankfurter Allgemeine.

Der WAZ wurde immer mal wieder vorgeworfen, sich ihren Erfolg durch ein aggressives Niederkämpfen kleinerer Konkurrenten verschafft zu haben. „Das war nachweislich nicht der Fall“, erzählte Maruhn. Tatsächlich machte der Anteil hinzugekaufter Auflage „weniger als fünfzehn Prozent aus“. Es waren vor allem kleinere Zeitungen am Rand des Ruhrgebiets, die zur WAZ kamen. Immer mehr Leser zogen von den großen Zentren in die Peripherie, etwa nach Velbert und Heiligenhaus, die WAZ folgte ihnen.

Unabhängiger Kopf

Eine Ausnahme war die Essener Allgemeine Zeitung aus dem Traditionsverlag Girardet. Sie bekämpfte die WAZ mit einem Dumpingpreis und einer Sonntagsausgabe. Die WAZ senkte also ebenfalls ihren Preis und erschien gleichfalls sonntags. „1954, am Abend der Landtagswahl, gab Girardet auf“, berichtete Maruhn 2002 in einem internen Memorandum, um das ihn der damalige Geschäftsführer Erich Schumann gebeten hatte.

1974/75 kamen dann die, so Maruhn, „stark heruntergewirtschaftete“ Westfälische Rundschau, aus demselben Grund die Westfalenpost und schließlich die NRZ zum WAZ-Verlag. Es war die Geburtsstunde des WAZ-Modells, das sich die Synergie-Effekte aus dem Verlagswesen holte und einen einheitlichen Anzeigenteil eta­blierte, um das Überleben der kleineren Zeitungen zu sichern.

Die Redaktionen sollten davon profitieren, denn sie wurden „konsolidiert und teils ausgebaut. Die NRZ-Zentralredaktion erhielt sogar noch vor den Pionieren bei der WAZ als erste Zeitung der Gruppe ein komplettes Redaktionssystem einer neuen Generation“, hielt der technikverliebte WAZ-Chef nicht ohne Neid fest.

Maruhn war ein unabhängiger Kopf. Erst recht parteipolitisch. Natürlich musste er sich oft gegen den Vorwurf wehren, die WAZ sei sozusagen ein SPD-Blatt. Er stritt das immer ab. Verwies etwa auf die Westbindung und die diesbezügliche Unterstützung der Regierung Adenauer.

Maruhn: „Brost hatte Kurt Schumacher (den damaligen SPD-Vorsitzenden) aus nächster Nähe kennengelernt und misstraute seinem eifernden Nationalismus. Wehners (damaliger SPD-Fraktionschef) Deutschlandpläne wurden von uns aufgedeckt und damit vereitelt, auch er gehörte nicht zu den Freunden von Brost.“ Auch die Freundschaft zwischen Brost und dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann hatte nicht zur Folge, „dass wir Heinemanns Wiedervereinigungspolitik und seine Parteigründung unterstützten“.

Maruhn war ein Anti-Ideologe. Und ein Freund des technischen Fortschritts. Diese Einstellung leitete er aus seinem christlichen Menschenbild ab. Wenn den Menschen von Gott die Erde schon unterstellt worden sei, dann hätten sie gefälligst auch das Beste darauf zu machen. So, wie er damals, als auch die SPD noch dafür war, die friedliche Nutzung der Atomkraft begrüßte, würde er heute wohl über die Gentechnik schreiben. So zu denken, hielt er nicht zuletzt mit Blick auf die Zukunft der Indus­trieregion für nötig, in der die WAZ erscheint.

Als die Grünen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre aufkamen, konnte Maruhn mit ihnen wenig anfangen, und das, obwohl „meine jüngeren Söhne und Enkel durchweg grün eingefärbt waren“.

Maruhn war ein mutiger Mann, der einzige Redakteur, dessen Haus auf WAZ-Kosten geschützt werden musste. Grund war die Kommentierung des Chefredakteurs über den RAF-Terrorismus, die er fast immer übernahm, damit Kollegen dies nicht tun und sich so einer Attentatsgefahr aussetzen mussten.

Maruhn war ein liberaler, toleranter Geist. Er mochte die intellektuelle Auseinandersetzung, konnte zuhören, wenn nötig, auch lange. Und er war souverän genug, unterschiedliche Meinungen auch in der WAZ hinzunehmen. „Es stört mich nicht, ja, ich halte es für einen Vorteil, wenn in den Meinungsspalten auch voneinander abweichende Haltungen vertreten werden“, erklärte er 1979 in einem Vortrag vor dem Essener Zylinder, einem kleinen, aber feinen bildungsbürgerlichen Gesprächskreis, in den Erich Brost Siegfried Maruhn geholt hatte.

Moderner Zeitungsmacher

Maruhn war ein moderner Zeitungsmacher, bis zuletzt aufgeschlossen für technische Neuentwicklungen wie das I-Pad, mit dem eine völlig neue Art von Geschichtenerzählen möglich werden könnte. Die Änderungen in der Zeitung, die Hinwendung zu Reportage und Analyse, die Pflege der eigenen Autoren, hat er rundheraus begrüßt. Sie entsprachen auch seinem journalistischen Naturell.

Wir waren uns einig, dass die Digitalisierung in der Medienwelt sicher eine Herausforderung ist, aber auch die Chance bedeutet, ei­nen engeren Kontakt zwischen Le­sern und Redakteuren herzustellen.

Der Redakteur und sein Leser – dieses ganz spezielle Problem kannte Maruhn nur zu genau. „Sie glauben nicht, wie schwer es ist, einen qualifizierten Fachmann zu finden, der sich verständlich mitteilen kann und der bereit ist, auf den Ehrgeiz zu verzichten, seinen Fachkollegen imponieren zu wollen. Eine meine Hauptforderungen ist deshalb immer wieder: Wir schreiben nicht für die Kollegen, sondern für unsere Leser.“

Wir, die WAZ-Redakteure, nehmen dies als Siegfried Maruhns Vermächtnis.

Gestern, in den frühen Morgenstunden, spielte sein Herz nicht mehr mit. Ihm war schon länger klar, dass er nicht mehr lange leben würde. Zuletzt mag er es, berichtet einer der Söhne, als Gnade empfunden haben, gehen zu können. Der evangelische Christ starb ohne Schmerzen im Sankt Josef Krankenhaus in Essen-Kupferdreh.