Mülheim. .

Das Projekt „2 - 3 Straßen“ war eines der stillen im Ruhr.2010-Jahr 2010. WAZ-Reporterin Annika Fischer testete es persönlich: Sie zog in die „Pension zur Kunst“ ein. Die Miete zahlte sie – mit einem Text.

Künstler können sowas, wenn sie einen Namen haben. Wie Jochen Gerz: Steckt ein paar Neue in alte Häuser, worin selten Sehenswerteres geschah als anonymes Rein-und-Raus; die Miete kostet nur ihre Kreativität – dann erklärt er die Straße zur Ausstellung. Ist das Kunst?

Man sollte das nicht fragen, aber die Frage passiert von selbst, wenn erst die Zahnbürste steht im Alibert von Haus 7, 19. Stock, Wohnung 4. Das ist die „Pension zur Kunst“, man kann hier eine Nacht wohnen statt ein ganzes Jahr, wie die Anderen im Projekt „2-3 Straßen“. Hier ist Mülheim, ein Hochhaus als „vertikale Straße“, hat Gerz gesagt, mit über 200 Parteien. Sind die nun alle Bilder einer Ausstellung? Und ich?

Unten schiebt eine alte Frau den Rollator über den Schnee, die Briefkästen haben ein eigenes Zimmer, und der Hausmeister starrt mich an . . . Aber das hat nichts mit Kunst zu tun, das ist sein Job. Zu sehen ist nichts als Alltag, aber vielleicht sieht man genauer hin. Und erkennt etwas wieder, haben sie mir erklärt. Womöglich in diesem Alltag den eigenen oder in den Menschen sich selbst. Kunst?

Christian Werth aus der 6. ist kein Künstler, am Ende „nicht einmal ein Kreativer“, überhaupt wohne in Mülheim „nur ein echter“, hat man mir gesagt (was ist ein echter Künstler?). Werth wusste einfach nicht, was er tun soll, „die Erleuchtung ist mir noch immer nicht gekommen“. Schreiben fand er „ganz reizvoll“, hat aber gelernt: „Wenn jeder in seiner Kammer hockt, ändert das gar nichts.“ Er hat also angefangen zu fotografieren, jeden, der wollte im Haus: lauter verschiedene Leben aus immer derselben Perspektive. Es wollten aber nur 15 Prozent, „dem Rest ist scheißegal, ob wir hier sind“. Auf seiner Etage wohne ein Misantroph, sicher schlecht für die Kunst. Ob er sich als Teil eines Kunstwerks fühlt, hält Werth für „eine tiefsinnige Frage“, er findet sie fremd, aber das ist sie nicht: Die Besucher haben sie ihm gestellt, die „allen Ernstes gucken wollten, wie wir hier leben“. Ganze Kunstvereine waren in der Ausstellung und Kurse von der VHS. „Aber wir wohnen hier einfach nur.“

Das tut Beate Gottwald auch, schon 15 Jahre. „Wat is dat denn jetzt wieder?“, dachte sie, als das Hochhaus plötzlich ein Kunstwerk sein sollte. Aber sie haben viel geredet über die Kunst und Kuchen gebacken, „das ist in Deutschland auch Kultur“, und Beate Gottwald glaubt, diese Neuen „haben das Haus offener gemacht“. Und sie selbst. Dass wir hier reden, über die Liebe und das Leben, zwei fremde Frauen im 19., das ist wohl die Kunst. Die 60-Jährige sagt, man habe ihr Mut gemacht und Selbstvertrauen gegeben, endlich wagte sie, wovon sie lange träumte: veranstaltet jetzt Lesungen in ihrem Friseurladen. Auch sie hat darüber nachgedacht: „Ich bin keine Kunst“, aber sie hat gelernt, „dass Kunst anders betrachtet werden muss“.

Seinen Besuchern sagt Sebastian Kleff schon an der Tür: „Guck, alles Kunst“, denn „die meisten denken, Kunst ist, was auf der Leinwand stattfindet“. Dabei sei das „Flachware“. Weil er das so sieht, nennt sich Kleff „Künstler ohne Werk“, obwohl es ein Werk gibt, seit er hier wohnt: Der 31-Jährige macht eine lebendige Zeitschrift, an seiner Wand hängen Bilder von Mietern. Beate ist dabei und natürlich Elli. Elli Kunst, schon wegen des Namens, aber auch, weil sie so impulsiv ist, sie bastelt Ketten. „Soziale Plastik, dat isset, da bin ich sicher Teil von“, sagt Sebastian. „Und der Swimmingpool hier, wenn das nicht auch Kunst ist: Lebenskunst!“

Und Dieter Schnapka ist der Lebenskünstler. War mal Feuerwehrmann, jetzt reist er, mit dem Moped bis Wladiwostok, und seine Wohnung mit Ost-Blick ist ein kleines Asien: wie im Museum. Schnapka traf einen der Kreativen in der Sauna, er sagte ihm, er soll nicht nur erzählen, sondern schreiben.

Seine Tour wird also im Buche stehen und sein Stolz darauf und was er so denkt. „Ich wunder’ mich über mich selber, was mir durch den Kopf geht.“ So oft haben sie im Haus darüber geredet, dass der 64-Jährige „nicht anders kann, das alles als Kunst zu sehen“, aber Dieter Schnapka ist nicht gemacht, „um ein Kunstwerk zum Glänzen zu bringen, ich bin eher vom Herzen geleitet“.

Oben gähnt mich der leere Bildschirm an. Das Herz ist voll, der Bauch schweigt. Was schreibt man nur? Der Abfluss riecht muffig, vor dem Fenster tropft ein Eiszapfen, man hat meine Brötchen vergessen. Wer will das lesen und was überhaupt? Sollen, wollen die Autoren etwas sagen? Große Fragen an die Kunst. Und nicht jeder hat eine eigene Antwort gefunden oder die von Jochen Gerz gemocht. Eine Kunst, wenn das anders wäre.

Von Oliver Hasse gab es keine Misstöne. Er hat seine Musik mitgebracht, im Haus eine Platte aufgenommen; anfangs hat er seine Songs geübt, im Fahrstuhl oder auf den Fluren. Hat sich auch angeboten für Hausmusik, eingeladen aber hat ihn niemand. Für Hasse, 25, waren die Besucher die Kunstobjekte, die Menschen, denen man gesagt hat: Das ist Kunst! „Und ich sollte ihnen jetzt erklären, was an mir der Van Gogh ist.“ Stephanie Preuß kann das auf eine höfliche Art: „Das müssen Sie selbst herausfinden.“

Sie hat ja auch ihre Probleme mit dem Kunstbegriff; ist es Kunst, dass sie unten ein Regal aufgestellt hat mit Büchern zum Tauschen? „Sozial, das ja.“ Eine soziale Skulptur. „Kunst muss die Menschen einbeziehen.“ Für Stephanie ist die Kunst von ihrem hohen Ross gestiegen in diesem Jahr; sie traut sich jetzt zu, Neues auszuprobieren, beim Schreiben und vielleicht auch im Leben. Hochhäuser hielt die 26-Jährige früher für „anonyme Schuppen“, jetzt sieht sie: „Die Leute haben angefangen, im Aufzug zu grüßen.“ Auch wenn das eine „Minimalveränderung“ ist: So lange es eine ist, ist das wohl die Kunst.


(Hiermit aufgeschrieben.)