Essen. .
Hunderte von Roma suchen diesen Winter im Ruhrgebiet Asyl. Eine Frau berichtet von ihrer Flucht aus der Armut.
„Jeder hier hat ein Problem, warum er abhaut“, sagt die Frau, die wir Leena nennen wollen, auf die Frage, ob sie und ihre Nachbarn nicht das deutsche Asylrecht missbrauchen. Wir befinden uns in einem Asylbewerberheim in Essen, den Korridor beherrschen die Buntstift-Träume der Kinder, um zehn Uhr schlafen die meisten Bewohner noch. Roma überwiegend.
Es ist eine kleine Welle, die seit zwei Monaten vom Balkan herschwappt. In Essen zum Beispiel hat sich die Zahl der Asylsuchenden fast verdoppelt: um rund 200 Menschen – kein Vergleich zu den Flüchtlingsströmen der 90er. Aber die Städte haben ihre Container längst abgebaut, und nun wird der Platz knapp. Auch wenn die Anträge wohl abgelehnt werden – geprüft wird jeder Einzelfall, und solange müssen die Menschen beherbergt werden: den Winter über. Auch Leena ist einer dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“, aber jeder hier hat eine Geschichte, und das ist ihre.
Vom Zuwenig ins Nichts
Sie beginnt vor 23 Jahren auf dem Essener Hauptbahnhof. Leena ist zwei, ihr Vater, ein Erntehelfer, hat nicht mehr genug Arbeit gefunden. Die Polizei belästigt die Familie, Romakinder dürfen nicht zur Schule gehen. Also flüchtet die Familie, stürzt sich vom Zuwenig ins Nichts, und der letzte Halt ist zufällig Essen.
Es ist Mitternacht, ein paar Skinheads betrinken sich, die Mutter bricht weinend zusammen. „Wenn unser Leben hier endet, soll es so sein“, sagt der Vater. Aber es gibt einen Gott, glaubt Leena, denn er schickt einen Fremden, einen Roma, der sie aufnimmt und beim Asylantrag hilft. Leena besucht einen deutschen Kindergarten und die Hauptschule. „Hätte ich bleiben können“, sagt sie, „hätte ich heute vielleicht Arbeit.“
Sie ist 16, als ihre Eltern ausgewiesen werden. Leena hätte bleiben können, um die Schule zu beenden – aber für die Rückreise des Kindes bekommen die Eltern 800 Euro. „Sie haben meine Zukunft verkauft“, sagt Leena. In Serbien wartet eine Lehmhütte nahe Vranje auf sie. Es sind Kilometer bis zum nächsten Brunnen.
Leena spricht kein serbisch, hat keine Ausbildung und keinen Pass – aber sie hat noch ein ganz anderes Problem. Sie ist angefahren worden auf dem Schulweg, als sie zehn Jahre alt war. Erst Jahre später stellte sich heraus, dass ihre Wirbelsäule geschädigt worden war. Die Abschiebung kam nur eine Woche nach der zweiten, mäßig erfolgreichen Operation. Die Wunde entzündet sich. In Serbien will kein Arzt sie behandeln, schließlich zieht der Vater selbst die Fäden. Leena hat noch heute Schmerzen.
Und sie fällt weiter ins Prekäre. Leena lernt einen Mann kennen, der noch ärmer ist als ihre Eltern. Er hat nicht mal eine Unterhose, wohnt mit drei Brüdern und einem prügelnden Säufer als Vater. Leena weiß, dass Santino vom Betteln lebt, aber die erste Zeit muss sie nicht selbst auf die Straße. Doch Santino wird eingezogen und ins Kosovo geschickt – als Roma gerät man dort leicht zwischen die Fronten. Er sollte Menschen ermorden, behauptet Leena, und flieht. Von nun an kann er nur noch heimlich arbeiten.
Leena bringt also ihr erstes Kind beim Betteln zur Welt, im Graben einer Fernstraße. Eine Romafrau durchschneidet die Nabelschnur und wickelt die kleine Selina in ihr Tuch. Sie schenkt Leena die vier Euro des Tages, damit der Schwiegervater sie nicht verprügelt. Leena hat keine Milch in der Brust, Santino melkt in der Nacht fremde Ziegen.
Der Streit um einen Keks ist der Auslöser ihrer Flucht. Kurz zuvor ist Leena beinahe vergewaltigt worden beim Betteln, „vor meiner zweijährigen Tochter! Zum Glück fand ich einen Stein.“ Und nun verwehrt die eigene Familie dem Kind einen Keks; die Schwägerinnen reißen die Betteleinnahmen an sich. Leena flieht mit Selina nach Belgrad. Sie steht vor dem Abgrund, und sie springt hinein.
Ein Mercedes mit getönten Scheiben fährt vor. Das Angebot: „Wir bringen dich nach Deutschland, aber wir sind drei Männer, zwei von uns tragen Masken.“ Leena fällt auf die Knie, weint und betet, weil sie weiß, die Männer können sie versklaven oder töten und das Kind nehmen. Aber sie glaubt an Gott, kauft Brot und geht zum Treffpunkt. Im Transporter warten schon zehn Frauen, die in Deutschland verkauft werden sollen.
Das Wunder von Essen
Die Reise dauert drei Tage, alle paar Stunden hält der Wagen, und eine Frau wird herausgerufen, „ist für fünf oder zehn Minuten nicht existent“, sagt Leena. Immer wartet sie, dass ihr Name fällt, und nach drei Tagen ist es soweit. Die Tür geht auf, und sie steht: am Essener Hauptbahnhof. „Du hast Glück, dass Du die Kleine dabei hast“, sagt der Mann aus dem Mercedes.
„Es gibt einen Gott“, wiederholt Leena. Nach zwei Monaten holt sie ihren Mann nach. Die Familie bekommt nun 500 Euro im Monat. Und mehr noch, sie hat einen Anwalt gefunden, der eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate erwirkt hat. Denn die 25-Jährige wird im Februar ihr zweites Kind gebären, und ein Arzt hat ihr bescheinigt, dass sie dann noch einmal am Rücken operiert werden muss. „Ich will eine gesunde Mutter werden“, erklärt Leena – und weiß, dass sie im März wohl wieder gehen muss.