Oberhausen. .
Ein Besuch bei Paul. Der berühmte Krake ist trotz des Rummels um ihn herum mit allen Tentakeln auf dem Boden geblieben.
Der Krake ist keine Eintagsfliege, soviel steht mal fest. Die Menschen stehen zwischen den andern Aquarien bis ums Eck, sie sagen Sätze wie: „Da hinten ist der Paul, den wollen wir doch gucken!“ Dann, letztendlich vorgerückt vor das Aquarium des Meisters, zücken sie die Fotohandys; und auf der Innenseite des Glases spreizt sich gerade Paul, wie man sich nur spreizen kann: Rollt die Tentakel ab, posiert und poussiert, wird ständig beobachtet, fotografiert (nackt!), und alles wartet auf eine Affäre.
Wahrlich, ein Star.
Acht richtige Tipps in Serie machten Paul zu einem Orakel von Gewicht, zu einem Seher, dessen Stimme gehört wurde – der große alte Krake der Prophetie. Auf dem Höhepunkt des Ansturms konnten selbst die Angestellten hier im Sealife-Aquarium nur im Fernsehen verfolgen, was der Oktopus im selben Hause gerade tat: Octopus vulgaris Superstar. Mehr als drei Monate danach ist der Andrang noch immer groß, fragen Menschen oder Medien nach einer krakenseitigen Vorhersage: „Weltweit und übergreifend, politisch und privat, Fußball, die Lottozahlen, das ist überhaupt nicht zu begrenzen“, sagt Pauls Sprecherin Tanja Munzig.
Apps, Lieder, Fanartikel
Nein, halt, sie spricht ja für dieses Groß-Aquarium in Oberhausen, wo Paul lebt; und hoffentlich verleiht mal jemand ihr und ihrer Abteilung einen anständigen Marketing-Preis für die Kreation von Paul – Ausgangspunkt der Idee, ihn orakeln zu lassen, war die Fähigkeit von Kraken, Schraubdeckelgläser aufzuschrauben. Da haben sie Fischen unbedingt etwas voraus! Und heute? Das Tier hat Apps, das Tier hat Lieder und Fanartikel, (das Aquarium hat Besucher). Ein Rummel, den wirklich niemand erahnen konnte, also . . . vielleicht ER.
Und diverse Wer-auch-immer betreuen Internetseiten, auf denen drängende Fragen an Paul auftauchen wie diese von Lea, 16: „Wann wird Deutschland Europameister??? Passen Marko Marin und ich zusammen??????“ Was soll er da machen? Ein Foto in den Tentakel nehmen? Links Marko Marin, rechts Lothar Matthäus?
Paul ist Ehrenbürger in Spanien und Vorbild für chinesischen Spielfilm
Nein, Paul sagt jetzt gar nichts mehr, Paul schweigt, er ist ja nicht blöd – jede Vorhersage, auf die er sich noch einließe, stieße alle andern Bittsteller vor den Kopf. Und er hat ja schon alles erreicht! Ehrenbürger der spanischen Stadt Carballiño. Vorbild des chinesischen Spielfilms „Zhangyu Baoluo“. Offizieller Botschafter der WM-Bewerbung England 2018. Zwei seiner Orakel-Kistchen werden in das neue Fußballmuseum in Dortmund aufgenommen. Fußballfans und andere Kinder liegen ihm eh zu Füßen.
Dabei ist Paul auf dem Höhepunkt seines Nachruhms völlig normal geblieben, ganz der Krake von nebenan, und Berichte über eine tiefe Depression wären übertrieben: „In eine Ecke im Aquarium hat er sich auch früher schon mal zurückgezogen, das ist völlig normal“, sagt Aquariumsleiter Oliver Walenciak: „Aber das ist niemanden aufgefallen, bevor es Paul das Phänomen gab. Heute kommen die Leute wegen Paul und wundern sich dann, wenn er nicht zu sehen ist.“
Die folgenden Absätze sind für Kinder unter 12 Jahren nicht geeignet.
Das Problem ist nämlich: Die statistische Lebenserwartung von Paul geht zu Ende, die zwei bis zweieinhalb Jahre eines Oktopuslebens sind nahezu erschöpft. Doch es steht bereits fest: Es wird kein Staatsbegräbnis geben, keinen Trauerredner Joachim Löw; und es wird auch nicht zu dem Bild kommen, das sechs Fußball-Nationalspieler einen winzigen Sarg auf einen Friedhof tragen.
Aber „bei uns wird es immer einen Paul geben“, sagt Tanja Munzig – auch zur Europameisterschaft 2012 wird hier wieder ein Oktopus auf Inspiration warten. Doch vielleicht kommt es ja noch anders. Walenciak sagt: „Die Lebenserwartung von Kraken ist kurz. Aber über die Lebenserwartung von Orakeln weiß man nichts.“