Castrop-Rauxel. .
Im Offenen Vollzug sollen Häftlinge auf das Leben in Freiheit vorbereitet werden. Im „Meisenhof“ in Castrop-Rauxel gibt es weder Wachtürme noch Stacheldraht. Und die Grenzen zwischen Inhaftierten und Mitarbeitern verschwimmen auch manchmal.
Erst letzte Woche ist es ihm wieder passiert: Da kam ihm jemand nach der Einweihung der neuen Bücherei auf dem Gelände entgegen und sagte: „Tolle Veranstaltung war das!” Und Ralf Bothge hat sich gefragt: „Gefangener oder Mitarbeiter?” So leicht lässt sich darauf nämlich keine Antwort finden. Nicht, wenn man erst eineinhalb Jahre Gefängnisdirektor ist und es mit knapp 400 Häftlingen und rund 130 Bediensteten zu tun hat. Und erst recht dann nicht, wenn das im Offenen Vollzug ist. Denn hier, in der Justizvollzugsanstalt „Meisenhof” in Castrop-Rauxel, gibt es keine hohen Mauern, keinen Stacheldraht und auch keine Gefängniskleidung. Und wer einem hier entgegenkommt, kann theoretisch alles sein: ein Mörder, ein Betrüger, ein Dealer oder eben auch ein Arzt, Psychologe oder Vollzugsbeamter.
In jenem aktuellen Fall war es übrigens ein Gefangener, wie dem Lüner kurze Zeit später einfiel. Doch nicht immer weiß der JVA-Leiter auch sofort, welche Straftat es war, die denjenigen hier in den „Meisenhof” geführt hat. Nicht, weil man bei so vielen Häftlingen auch mal den Überblick verlieren könnte, sondern weil es nicht sein Hauptaugenmerk ist. „Mein oberstes Prinzip ist: Es sind Menschen. Und es bleiben Menschen, egal was sie gemacht haben. Auch wenn das ihre Tat nicht entschuldigen soll”, sagt der 49-Jährige. Das sei schon immer seine „Moral im Umgang” mit den Gefangenen gewesen - auch schon zu Zeiten, als er noch stellvertretender Anstaltsleiter im geschlossenen Vollzug in der JVA Gelsenkirchen war.
Dafür braucht man keine Wachtürme
Doch sonst ist alles anders als im üblichen „Knast” - eine Formulierung, die Bothge selbst gebraucht. Denn hier werden die Häftlinge nicht in Zellen eingeschlossen, hier können sie sich zwischen den Unterkünften frei bewegen, hier können sie das Gelände - mit entsprechender Genehmigung - sogar verlassen. Um vielleicht mal ins Kino oder zum Einkaufen zu gehen, um soziale Kontakte zu knüpfen, eine Wohnung zu suchen oder auch, um zu arbeiten. Denn genau das ist das Ziel, das sich hinter dem Konzept des Offenen Vollzugs verbirgt: Die Inhaftierten dazu zu befähigen, außerhalb des Strafvollzugs ein Leben ohne Straftaten zu führen. „Nichts anderes schreibt das Gesetz uns vor. Und nichts anderes darf auch die Gesellschaft von uns erwarten”, sagt Bothge. Dazu bedürfe es seiner Ansicht nach weder vieler Wachtürme, noch langer Bahnen Stacheldrahts. Denn der kontrollierte Umgang mit Freiheiten, ist er überzeugt, verspricht den besten Resozialisierungserfolg. Vorausgesetzt, die Gefangenen werden zuvor auch als dafür geeignet eingeschätzt. Denn nicht jeder, der zuvor im geschlossenen Vollzug war, wechselt automatisch auch in den Offenen. Und nicht jeder, der es bis in den „Meisenhof” geschafft hat, bekommt auch nach kurzer Zeit bereits Ausgang.
Ohnehin fängt die Zeit der Lockerung ganz langsam an, Schritt für Schritt. In immer kleineren Gruppen und mit immer weniger Begleitung. Die jedoch ist gerade bei denen, die schon viele Jahre im Gefängnis hinter sich haben, geradezu erforderlich. „Es gibt Gefangene, die haben noch nie zuvor einen Euro in der Hand gehabt, weil sie einfach schon zwölf Jahre gesessen haben”, sagt Bothge. Andere haben sämtliche Kontakte zu Familienangehörigen und Freunden verloren.
„Das Gefängnis hat mir die Augen geöffnet“
„Viele Beziehungen und Ehen gehen in der Haft kaputt”, sagt Andreas Müller (Name geändert). Auch seine Frau trennte sich irgendwann von ihm, nachdem er 2006 zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde. „Wegen BTM-Handel”, erzählt der 35-Jährige aus Münster und betont, dass es jedoch „nie die harten” Sachen waren, mit denen er gedealt hatte. Dafür war die Menge an Marihuana, die ihm nachgewiesen werden konnte, umso härter: „683 Kilogramm” erzählt er und lächelt. Gleichwohl ist ihm der Spaß an diesem Geschäft längst vergangen. Spätestens, seit er ins Gefängnis kam. „23 Stunden in der Zelle zu sein, das war für mich der Untergang”, sagt er rückblickend. „Aber es hat mir die Augen geöffnet.” Und ihn soweit verändert, dass auch die Gefängnisleitung ihn seit Februar in den Offenen Vollzug überwies.
„Das war am Anfang schon ein komisches Gefühl, sich auf einmal wieder frei bewegen zu können”, gibt er zu. „Wie ein Neuanfang.” Einer, mit dem er behutsam umgeht, und den er nicht aufs Spiel setzen möchte. „Da wäre man schön dumm, wenn man sich das jetzt versauen würde”, weiß er. Denn auch, wenn die Gefangengen im Meisenhof Freiheiten haben: Sie sind nicht unbegrenzt. Ganz im Gegenteil: „Wir geben den Menschen hier einen Vertrauensvorschuss. Wer den missbraucht, der fliegt”, sagt Ralf Bothge. Anders formuliert: Wer nicht bei der Arbeit erscheint, wer länger als erlaubt wegbleibt, wer mit Drogen oder Alkohol erwischt wird, der kommt zurück in den geschlossenen Vollzug.
Wie stehen die Chancen auf einen Job?
Andreas Müller jedenfalls ist überzeugt, dass ihm dies erspart bleibt, dass er wie geplant im November die JVA verlassen darf. Bis dahin arbeitet er weiter als Koch in der Kantine und gibt die Hoffnung nicht auf, dass er mit seiner neuen Partnerin einmal ein ganz normales Leben mit einem festen Job führen kann. Zumindest die Zusage für eine Zeitarbeitsfirma hat er schon. „Ich habe einen Fehler gemacht, aber das ist ein Lebensabschnitt, der zu mir gehört”, sagt er. „Und ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient.” Vielleicht, so hofft er, werden das einmal auch jene Chefs denken, die ihn kennenlernen. Die nicht immer nur zurückschrecken, wenn sie hören, dass er im Gefängnis war. Denn eigentlich, überlegt er, haben jene Menschen, die im Offenen Vollzug waren, doch viel gelernt. „Gerade hier gibt es feste Regeln, an die man sich halten muss. Mit solchen Leuten kann man doch vielleicht besonders gut zusammenarbeiten.” Und noch etwas hat er in den letzten Monaten gelernt: Wenn er sich im November von Ralf Bothge verabschieden wird, dann wird er eines auf keinen Fall sagen: „Auf Wiedersehen.”