Gelsenkirchen. .

Der 42-Jährige Familienvater Wilfried Fesselmann wurde als Kind von einem Essener Kaplan missbraucht und leidet noch heute darunter. Jetzt fordert er eine Entschädigung.

Was ist ein Leben wert, das durch und durch von einem Kinderschänder geprägt wurde? Wieviel Geld ist jeder einzelne Tag, jede einzelne Nacht wert, an dem ein Opfer nach der Tat unter Gewissensbissen leidet und unter posttraumatischen Störungen? Am Donnerstag tagte der Runde Tisch zum Thema Missbrauch der Bundesregierung, um Wege der Wiedergutmachung zu präzisieren. Der Gelsenkirchener Wilfried Fesselmann, als Elfjähriger von einem Essener Pfarrer missbraucht, hat seine Forderung bereits berechnet: 863 000 Euro.

Der 42-jährige Familienvater weiß natürlich, dass er eine derart hohe Summe nie be­kommen wird, obwohl sie ihm seiner Meinung nach zusteht: „Das ist genau das Gehalt, das der damalige Kaplan der Gemeinde St. Andreas in Rüttenscheid in vierzehn Jahren verdient hat. Also in der Zeit, in der ich wegen meiner posttraumatischen Panikstörungen nicht arbeiten konnte”, erklärt Fesselmann. Mit voller Kraft ging er erst im März dieses Jahres, 30 Jahre nach der Tat, an die Öffentlichkeit. Vorher wurde er bei der Katholischen Kirche abgeschmettert, sie hatte ihn sogar wegen „Erpressungsversuchs” vor Gericht gezerrt, ihm die Polizei in die Wohnung geschickt.

Fesselmann ist froh, dass er an die Öffentlichkeit gegangen ist. Das hilft ihm persönlich, das schlimme Erlebnis zu verarbeiten. „Ich will aber vor allem anderen Missbrauchsopfern den Rücken stärken”. Und noch eines ist ihm wichtig: „Ich befürchte, dass das Bistum Essen den suspendierten Pfarrer wieder zurückholt. Dass er wieder hier wohnen wird, mit der Stelle eines Aushilfspfarrers betraut. Das wäre der Horror.”

Zuflucht in Bayern

Bis zur endgültigen Suspendierung von Pfarrer H. war es ein langer Weg, auf dem sogar Papst Benedikt XIV. eine – zweifelhafte – Rolle spielte. Fesselmann wirft ihm vor, dem Essener Pfarrer als damaliger Erzbischof von München und Freising in seiner Erzdiözese einen Therapieplatz und später eine Seelsorgestelle besorgt zu haben, ohne Vorkehrungen zu treffen, dass H. von Kindern ferngehalten wird. Denn H. verging sich weiterhin an Schutzbefohlenen und wurde im Juni 1986 wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen und Verbreitung von Pornographie zu 4000 Mark Strafe und einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten auf Bewährung verurteilt. Aber auch danach hat sich Pfarrer H. in verschiedenen Positionen der Katholischen Kirche immer wieder an Kindern vergangen. Erst am 12. März 2010 wurde er im Alter von 63 Jahren vom Dienst suspendiert. 30 Jahre, fast 31 Jahre nach dem Missbrauch an Wilfried Fesselmann in der Nacht vom 13. auf den 14. Juli 1979.

„In der Woche nach einer Ferienfreizeit rief der damalige Kaplan bei uns zu Hause an und sagte, nette Kinder aus der Freizeit dürften zur Belohnung bei ihm im Pfarrhaus übernachten.” Einer nach dem anderen kam an die Reihe, der elfjährige Wilfried war wohl der Erste. „An jenem Freitagabend haben wir anfänglich ganz normal geredet. Dann hat er mir etwas zu trinken gegeben. Es schmeckte etwas komisch, er sagte ‘trink, das ist etwas ganz Tolles’. Es war wohl Bacardi mit Cola”, erinnert sich Fesselmann. „Mir wurde komisch. Dann hat der Kaplan Haus- und Zimmertür abgeschlossen, verfiel von seinem anfangs freundlichen in einen Befehlston und befragte mich nach ganz eigentümlichen Dingen zu meinem Geschlechtsteil. Ich wusste gar nicht, was ich antworten sollte, aber den Kaplan hat diese Art von Gespräch wohl erregt. Danach zog er seine Hose aus, ich musste mich auch ausziehen. Dann haben wir uns beide gegenseitig unten angefasst, so wie er es wollte.“ Und schließlich habe er den Geistlichen oral befriedigen müssen, versucht Fesselmann, den widerwärtigen Abend in Worte zu fassen.

Am nächsten Morgen sei er, nach einem durch den Rum ausgelösten Rausch, im Gästebett des Pfarrers aufgewacht. „Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem stand so etwas wie ‘Es bleibt unser Geheimnis, erzähle deinen Eltern nichts’.”

Wilfried Fesselmann ist auch heute nicht einmal in der Lage, Auto zu fahren. „Ich gerate in Panik, wenn ich mich bestimmten Situationen ausgeliefert fühle”, sagt der ehemalige Kaufmännische Leiter und EDV-Fachmann. Nicht einmal seine Therapien beim Psychotherapeuten habe die Katholische Kirche zunächst finanzieren wollen: „Sie fragten mich, ob ich nicht meine Krankenkasse in Anspruch nehmen könne.”

Die Ängste der Vergangenheit holen Fesselmann immer wieder ein. Jetzt soll sein Peiniger wenigstens finanzielle Sühne für seine Schuld leisten. Der Geistliche selbst scheint kaum Schaden davon getragen zu haben. In seiner Gemeinde in Bad Tölz galt Pfarrer H. bis zum Schluss als sehr beliebt und in seiner unzynischen Bedeutung als „Pfarrer zum Anfassen.”