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Junge Menschen wählen immer weniger: Manche misstrauen den Mächtigen, andere verzweifeln an den Parteien. Doch das politische Potenzial der Jugend bleibt groß. „Die Politikverdrossenheit der Jugend ist ein Märchen“, sagen Experten.

Der Lehrer stellt eine Frage, und drei einsame Finger zeigen auf. „Und einer davon war noch meiner“, erinnert sich Philipp Gerhardus (31), Politiklehrer an der Gesamtschule Duisburg-Mitte. Dabei wollte er von seinen volljährigen Schülern nur wissen: „Wer war bei der Bundestagswahl wählen?“

Ein drastisches Beispiel für einen eindeutigen Trend: „Die generelle Wahlbeteiligung nimmt ab. Bei jungen Menschen nur stärker und schneller“, sagt Stefan Marschall, Politikprofessor aus Düsseldorf. Die Zahlen belegen das: Bei der NRW-Wahl 2005 wählten 63 Prozent aller Wahlberechtigten. Von den jungen Erwachsenen zwischen 21 und 25 Jahren gaben nur 46 Prozent ihre Stimme ab.

„Bedenklich“ und „erschreckend“

Sind junge Menschen wirklich so politikverdrossen? Fragt man Politiklehrer zwischen Rhein und Ruhr, bestätigt sich die Befürchtung: „Bedenklich“, raunen die einen, „erschreckend“, rufen die nächsten. „Gering“, sei das Interesse an Politik, sagen die meisten. Manche schieben noch ein „ganz“ oder „sehr“ davor. „Das Desinteresse ist dramatisch“, sagt Andreas Robusch (39) von der Gesamtschule Meiderich.

Kaum einer, der seine Schüler auf dem Weg zu verantwortungsvollen Staatsbürgern sieht. Doch was sagen die, über die so geurteilt wird? Zunächst einmal fragen sie – und zwar nach: „Warum muss ich 30 bis 40 Bewerbungen schreiben, um eine Lehrstelle zu bekommen?“, will eine Schülerin der Kaufmännischen Schule 2 in Wattenscheid wissen. Roland Koch (CDU) ist gekommen, als hessischer Ministerpräsident darf er das im NRW-Wahlkampf. Er debattiert mit den Schülern über Politikverdrossenheit, da kommt die Frage. Und der Polit-Profi windet sich, stockt kurz. Dann zuckt er die Schultern und murmelt: „Das ist doch wohl nicht üblich, das ist kein Regelfall.“

Koch hat zwei Stunden aalglatt über Steuern, Renten, Rot-Grün und Afghanistan debattiert, doch die entscheidende Antwort bleibt er schuldig – und damit hat er die Schüler verloren: „Natürlich bin ich verdrossen. Die haben doch keine Antwort auf unsere Fragen“, sagt Sebastian Zeig (20). Und Maurice Dinkelbach, 19 und Mitglied der Jungen Union, stimmt zu: „Politiker brechen oft Wahlversprechen, viele sind unglaubwürdig.“ Das macht die Schüler misstrauisch und wütend – aber nicht desinteressiert.

Politik wird als abstrakter Apparat gesehen

„Die Politikverdrossenheit der Jugend ist ein Märchen“, sagt Wolfgang Gründinger (25), Politikwissenschaftler und Autor des Buches „Aufstand der Jungen“. Es gebe aber „Verdrossenheit gegenüber Politikern und Parteien“. Das sei auch der Grund, warum so wenige Junge wählen gehen: „Das politische System wird als zu weit entfernt von der eigenen Lebenswelt, als abstrakter Apparat wahrgenommen. Viele Jugendliche können sich auch mit keiner Partei mehr identifizieren.“

Das Problem kennt auch Pia Trautmann (19): „Welche Partei vertritt eigentlich meine Interessen?“, fragt sich die Wattenscheider Schülerin: „Da habe ich noch keine gefunden, die hundertprozentig zu mir passt.“ Trotzdem will sie am Sonntag wählen gehen, sich politisch beteiligen.

Auf dem alten Weg. Andere machen es anders: „Politisches Engagement lässt sich bei uns nicht an der Zahl der Parteibücher messen, sondern eher an den politischen Profilen bei Facebook“, sagt Wolfgang Gründinger: „Leider gibt es da noch keine Statistik.“