Kamen. Nach einem Erdeinbruch in Kamen sind in der Nacht zu Freitag elf Häuser evakuiert worden. Ein Gebäude ist so stark beschädigt, dass es unbewohnbar ist. Die Ursachen für das Unglück ist noch unklar - die RAG schließt alte Bergbau-Schächte aus.

Morgens um sieben hört die Erde endlich auf, die Welt zu fressen. Einen blauen Bagger hat sie da verschluckt, Bretter, Rohre, junge Pflanzen und Lage für Lage nassen Lehm, zwei Zentimeter in jeder Stunde der Nacht. Wäre es nicht nass, die tiefen Spalten im Boden sähen aus wie ein Stück aufgerissener Steppe. Die Häuser an der Afferder Straße haben widerstanden, aber sie tragen die Zeichen der Erdgewalt: notdürftig geklammerte Risse in Nummer 10, schwere Balken, die Nummer 8 notdürftig stützen, Scherben, wo die Feuerwehr Fenster einschlug, bevor sie unter zu viel Druck von allein zersprangen. „Ist unbewohnbar, bleibt unbewohnbar”: die knappe Zusammenfassung von Feuerwehr-Sprecher Volker Rost.

Über Nacht hat Wasserkurl in Kamen am Stadtrand zu Dortmund den Boden unter den Füßen verloren.

Wo er hin ist, bleibt am Freitag die drängende Frage, noch in der Dunkelheit untersuchen Geologen den Grund: „Wann hört das auf, oder wird das noch schlimmer?” Ein Tagesbruch!, wird schon in der Nacht aufgeregt gemeldet, doch könne das nicht sein, sagen Experten, „definitiv nicht”, beteuert Kamens Bürgermeister Hermann Hupe. Es gab gar keinen Bergbau hier, jedenfalls nicht unter Wasserkurl, und keine Kohle.

Gutachter suchen nach Ursachen

Aber Luft: Geologe Stephan Brauckmann zeigt auf den drei Meter tiefen Krater, in dem der Bagger verschwand: Hier hatten Arbeiter am Vortag gebohrt, für die Erdwärmeheizung eines Neubaus. „Vielleicht, wenn sie fünf Meter weiter rechts gebohrt hätten, wäre nichts passiert.” Aber auch das kann man nur vermuten: Da waren vielleicht Sand und Felsklüfte darunter, vielleicht riss das Baggerloch einen Trichter. . . „Vielleicht war es auch ein unterirdisches Bachbett” westlich, vielleicht, vielleicht. „Bei einer Tiefenbohrung kann man nicht voruntersuchen”, sagt Brauckmann. Gutachter werden nun nachuntersuchen müssen, „spekuliert wird schon genug”, sagt einer. Erinnert das alles nicht an das Stadtarchiv von Köln? „Aber Kamen”, entgegnet Stefan Meyer, „baut doch keine U-Bahn!”

Neben Meyer, dessen 85-jährige Mutter ihr Leben lang wohnte im Haus Nummer 10, bauten nur Bongs. Ein kleines Häuschen sollte es werden, schon einmal lag die Baustelle still, weil der Unternehmer pleite war, kürzlich aber haben sie Richtfest gefeiert; jetzt liegt der Kranz im Dreck und das Gebäude steht schief. Die Rahmen passen nicht mehr um die Fenster, mehrere Zentimeter soll die Wand abgesackt sein, das Gerüst hängt in der Luft. Der Besitzer auch: „Aber was den Nachbarn passiert, ist schlimmer”, sagt Andreas Bong, er macht sich Vorwürfe wegen seiner Heizung.

Muss er nicht, sagt Frank Neumann aus Nummer 8, „die Leute tun mir so leid”. So sind sie in Wasserkurl, bangten die ganze Nacht vor ihren gesperrten Häusern, aber irgendwer bot immer Kaffee an oder sein Sofa; sie geben niemandem die Schuld. „Hier ist es noch so, wie's sein sollte”, sagt Neumann, „heile Welt”. Und steht dabei mit roten Augen vor dem Elternhaus seiner Frau, das nur noch hält mit Stützpfeilern. Hinter leeren Fenstern arbeitet das Technische Hilfswerk, zimmert Bohlen, reißt tote Kabel aus der Wand, markiert Risse mit rosa Farbe.

Wer zahlt?

Wer für die Schäden an Haus und Grund in Kamen-Wasserkurl aufkommt, ist noch völlig offen. Zunächst müssen Gutachter die Ursache des Erdeinbruchs klären und die Frage, ob überhaupt jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Dazu werden nun Probebohrungen vorgenommen. Die Hotelkosten übernimmt vorerst die Stadt.

Frank Neumann war am Donnerstag der erste, der die Furchen in der Erde sah und später die Linien in der Wand. Als Nachbar Claus seine Garage nicht mehr öffnen konnte, rief er die Feuerwehr. Sie kam mit Tatütata, Stefan Meyer hoffte noch auf einen Fehlalarm, aber dann hielten sie vor seiner Tür. Die Leute rannten aus ihren Häusern – und Neumanns können nun nicht mehr zurück. Oben in ihrem Haus hat eine Familie mit Kind gewohnt, „die kleine Emilia”, sagt Frank Neumann traurig, für unten hatte er eben einen neuen Mieter gefunden, und hinten, da lebte er. Zehn Minuten hatte er, um wenigstens die Papiere noch zu holen. Er schläft jetzt im Hotel, auf Kosten der Stadt.

Freitag Nachmittag dürfen die anderen wieder heim; sie gucken jetzt auf die tote Baustelle und auf einen Garten, in dem Kinder spielen, als sei nichts gewesen: mit einem kunterbunten Spielzeug-Bagger. Der echte liegt in der Erde.