Ruhrgebiet. Der Mann versprach Amina ein neues Leben und brachte sie nach Deutschland. Dort zwang er die junge Frau zur Prostitution. Zwei Jahre lang durfte sie das Bordell nicht verlassen. Dann gelang ihr die Flucht. Teil 10 unserer Serie "Überlebenskämpfer".

Sie traf den Mann in einer Zeit, als sie glaubte, dass der Schmerz nicht tiefer sein könnte. Amina* war 20 Jahre alt, hatte gerade ihre Mutter verloren und mitten auf der Straße, in ihrem Dorf in Ghana, liefen ihr plötzlich Tränen über das Gesicht. Der Mann blieb stehen, war freundlich, fragte: „Was ist los mit Dir?“ Er hörte ihr zu, tröstete sie. Und dann erzählte er Amina das Märchen von Deutschland, das schon so viele Frauen vor ihr gehört haben. Er erzählte von einem schönen, reichen Land ohne Hunger, einem Land, in dem Amina nicht auf den Feldern ihres Vaters arbeiten müsse, sondern zur Schule gehen könne. „Ich werde Dir dieses Land zeigen“, sagte der Mann. Und die Falle schnappte zu.

Rotlichtmilieu: die Linienstraße in Dortmund. Foto: WR
Rotlichtmilieu: die Linienstraße in Dortmund. Foto: WR © WR

Amina reiste mit dem Mann auf einem großen Schiff nach Europa. Doch von Deutschland sah sie kaum etwas. Er brachte sie gleich an jenen Ort, der in den folgenden zwei Jahren ihr Gefängnis sein würde. In ein Bordell im Ruhrgebiet. Der Mann, der so freundlich zu ihr gewesen war, zeigte jetzt sein wahres Gesicht. Er nahm Amina die Papiere ab, drohte ihr, sie bei der Polizei zu melden, wenn sie nicht für ihn anschaffen gehe. „Du musst erst dein Reisegeld abarbeiten. Dann kannst du machen, was du willst“, sagte der Mann. Er schlug und vergewaltigte sie. Er tat es immer wieder. Immer wenn sie ihm zu wenig Geld brachte, wenn sie weglaufen wollte, wenn sie ihn an sein Versprechen erinnerte. „Diese Gewalt war das Schlimmste“, sagt Amina.

"Ich war sehr einsam"

Sie sitzt da, die Schultern ein wenig nach vorne gebeugt, die Hände im Schoß vergraben. Sie spricht leise, in kurzen Sätzen. Amina will nicht viele Worte machen um jene zwei Jahre, die sie verloren hat. Zwei Jahre, die sie verdrängen muss, um weiterleben zu können. Sie ist jetzt 23 Jahre alt, doch sie sieht noch sehr mädchenhaft aus. Sie ist ungeschminkt. Das krause schwarze Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die bunte Sommerbluse ist hoch geschlossen. Wenn Amina von ihrer Zeit als Zwangsprostituierte erzählt, meidet sie den Blickkontakt, schaut ernst geradeaus. Auf ihrem Gesicht liegt ein verletzlicher Ausdruck.

Menschenhandel

Wenn Frauen zur Ware werden

Der Handel mit Frauen und Kindern zählt zu den Verbrechen mit den weltweit höchsten Zuwachsraten. Das Europa-Parlament schätzt, dass in der Europäischen Union rund 300.000 Opfer von Menschenhändlern leben. 15.000 sollen es allein in Deutschland sein. Die Opfer kommen vornehmlich aus Mittel- und Osteuropa, aber auch aus Asien und Afrika. Mitarbeiter der Caritas vermuten, dass allein in Essen rund 50 Frauen als Zwangsprostituierte arbeiten. Jedoch wird nur ein Bruchteil überhaupt aktenkundig. Nur wenige Opfer trauen sich, ihre Peiniger anzuzeigen.

Am Anfang habe sie viel geweint, sagt Amina. Und sich im Zimmer eingeschlossen, das der Mann ihr zugewiesen hatte: ein Schrank, ein Doppelbett, ein Fenster mit Blick auf die Bordell-Straße, ein Radio - ihre einzige Zerstreuung. In diesem Zimmer sollte sie von nun an fast ihre ganze Zeit verbringen. Zum Anschaffen musste sie sich in eines der Fenster stellen, an denen die Männer vorbeischlendern wie an Schaufenstern mit Auslegeware. Wie viele Stunden sie im Fenster stand, wie viele Freier sie am Tag bediente – sie hat es nicht gezählt. „Zwischendurch habe ich mich mal hingelegt“, sagt sie. „Aber ich hatte dann immer Angst, nicht genug Geld zu verdienen.“

Mit den anderen Prostituierten kam Amina kaum in Kontakt. Die Frauen sprachen hier und da mal ein paar Worte miteinander. Ihre Familie durfte sie nicht anrufen. Der Vater und ihre sechs Geschwister wussten die ganze Zeit über nicht, wo sie war. Sie werden es nie erfahren. Amina wird es ihnen nicht erzählen. Manchmal fragte ein Freier nach: „Warum machst Du das eigentlich?“ Doch sie antwortete nicht. Der Zuhälter hatte es ihr verboten. „Ich war sehr einsam“, sagt sie.

Leben in ständiger Angst

Prostituierte vor einem Bordell in Hagen. Foto: Theo Schmettkamp/WR
Prostituierte vor einem Bordell in Hagen. Foto: Theo Schmettkamp/WR © WR

Irgendwann verkündete der Mann, dass er sie nach Bayern bringen wird. „Die Zuhälter verschleppen die Frauen immer wieder an andere Orte“, erklärt Anika Wöhrle von der Caritas-Beratungsstelle „Nachtfalter“ in Essen. „In einer neuen Stadt sind sie Frischfleisch und verdienen mehr.“ Amina hatte von Bayern noch nie gehört. Sie bekam Todesangst. Die deutsche Polizei, die drohende Abschiebung – all das war plötzlich nicht mehr wichtig. Sie wollte nur noch weg. Eines Abends brachte der Zuhälter sie zur Wohnung eines Freiers. Als der gerade im Bad war, konnte sie fliehen. Amina lief zur Polizei und erzählte ihre Geschichte. Die Beamten brachten sie in eine sichere Unterkunft.

Sie hat ihren Zuhälter angezeigt. Doch die Chancen, ihn zu finden, sind gering. „Die Menschenhändler verwischen ihre Spuren. Sie mieten für die Mädchen Zimmer im Bordell, kommen einmal in der Woche vorbei, holen das Geld ab und verschwinden wieder“, sagt Anika Wöhrle. Die Bordell-Besitzer bekämen in der Regel gefälschte Pässe zu sehen. Oft wüssten sie noch nicht einmal, welches Mädchen zu wem gehört. Auch den Mann, der Amina verschleppte, verkaufte und erniedrigte, konnte die Polizei bisher nicht ermitteln. Am Anfang lebte die junge Frau in der ständigen Angst, er könnte ihr irgendwo auf der Straße begegnen und sich rächen. „Inzwischen hat er seine Suche vermutlich aufgegeben“, sagt Beraterin Wöhrle. „Richtig gefährlich würde es erst wieder, wenn sie als Kronzeugin vor Gericht gegen ihren Peiniger aussagen müsste.“

"Ich habe meine Liebe gefunden"

Serie Überlebenskämpfer

Früher drohte Frauen wie Amina die sofortige Abschiebung. Inzwischen wird den Opfern von Menschenhandel eine Bedenkzeit von einem Monat gewährt. In dieser Schonfrist können sie entscheiden, ob sie als Zeuginnen aussagen wollen. Wenn sie sich dafür entscheiden, haben sie ein Aufenthaltsrecht während des Strafverfahrens. Auch Amina war nach ihrer Flucht zunächst geduldet. Vor kurzem hat sie geheiratet. Ihr Mann ist auch Afrikaner. Er hat einen deutschen Pass. Jetzt darf sie in Deutschland bleiben. Es hat länger gedauert, ehe sie ihrem Mann vertrauen konnte. Trotzdem sagt Amina: „Ich habe meine Liebe gefunden.“

Sie geht zur Schule, besucht Integrationskurse, lernt Deutsch. Aber auch, wie sie mit einem Konto umgeht oder sich im Straßenverkehr zurechtfindet. Von Zeit zu Zeit legen sich die Erinnerungen wie Schatten auf ihr neues Leben. So sehr sie es auch versucht, sie kann es nicht verhindern. Dann denkt sie an die Menschen, die ihr geholfen haben. Sie denkt an das Land, in dem sie sich schon ein bisschen zuhause fühlt. Und sie denkt: Ich bin jetzt frei. Heute gleicht Deutschland beinahe dem Bild, das sie sich einmal davon gemacht hat.

*Name und Herkunftsland wurden zum Schutz der Frau geändert.

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