Marl.

Lehrer an der Willy-Brand-Gesamtschule in Marl üben, was im Falle eines Amoklaufs zu unternehmen wäre. Zusammen mit 17 Pädagogen engagieren sich die Polizisten im „Forum Grün­Gelb”, das Schulen im Kreis Recklinghausen und in Borken auf Notfälle vorbereitet. Doch das ist eher die Ausnahme.

Sie üben, was sie hoffentlich nie anwenden müssen: Was tun, wenn Schläger auf dem Schulhof Kinder schwer verletzen? Was tun, wenn gar das Unfassbare geschieht? Wie in Erfurt, in Emsdetten, in Winnenden. „Die meisten Lehrer haben keine Ahnung, was sie dann tun müssten”, sagt Irmlind Sowade, Lehrerin und Anti-Gewalt-Trainerin. Sie und ihre Kollegen wissen: Die Notfallordner, die alle Schulen vom Land für den Fall der Fälle bekommen haben, verstauben oft ungelesen in den Regalen.

Was wäre, wenn . . .? Einen kleinen Eindruck davon gewinnen an diesem Tag die Lehrer an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Marl. Denn Irmlind Sowade bietet ihnen eine laute Show. Sie brüllt, sie rennt auf die Pädagogen zu, sie erzählt von Jungs, die draußen die Fäuste fliegen lassen. Und die Reaktion ist so, wie die Trainer es schon Dutzende Male in Lehrerkollegien gesehen haben: Sie reden durchein­ander; wissen nicht, wohin; zeigen mit den Fingern nach rechts und links und hinten und vorne. Viele zögern, nur wenige handeln.

Nachfrage ist riesig

Das ginge auch anders. Wie, das zeigen Sowade und ihre Lehrer-Kollegen Christine Löbus, Thomas Averkorn und Klaus Püschel. Im Training dreht sich heute alles um einen Alukoffer. „Kostet im Baumarkt 30 Euro”, sagt Klaus Püschel. Die Silberkiste enthält eine Notfallausrüstung sowie im Deckel ein rotes und ein gelbes Piktogramm. Darauf stehen Kurz-Tipps für unterschiedliche Gefahren. Details sollten nicht verraten werden, bitten die Anti-Gewalt-Trainer. Der Alukoffer ist ein Geheimnisträger. Nichts für Schüler. Die dürfen gar nicht wissen, was ihre Lehrer so trainieren.

Bierbach und sein Kollege Dietmar Schirrmacher sind die „Väter” des Projekts, beide im Polizeipräsidium Recklinghausen zuständig für Gewaltprävention. Zusammen mit 17 Pädagogen engagieren sich die Polizisten im „Forum Grün­Gelb”, das Schulen im Kreis Recklinghausen und in Borken auf Notfälle vorbereitet. Hinter der Aktion steht aber ein komplettes kreisweites „Netzwerk gegen Gewalt an Schulen”. Das Schulamt macht mit, der Kreis Borken und das Polizeipräsidium Recklinghausen. Die Nachfrage nach Gewalt-Prävention ist riesig. In 90 von 270 Schulen wurde schon trainiert. Die Workshops sind ausgebucht. Wartezeit: ein Jahr.

Umsetzung oft schwierig

Innenminister Ingo Wolf (FDP) hat das Projekt mit dem „Landespreis Innere Sicherheit” ausgezeichnet. Das Schulministerium hielt sich hingegen zurück. „Da gab es eigentlich keine Resonanz”, ärgert sich Irmlind Sowade. „Die Schulen haben ihren Notfallordner bekommen und sollten Krisenteams bilden, und damit ist das Thema erledigt. Wir stellen aber fest, dass kaum einer den 112 Seiten dicken Ordner durchgeblättert hat, und wir haben auch keine Krisenteams getroffen. Die Kenntnisse der meisten Lehrer tendieren, wenn es um Amok-Prävention geht, gegen Null.” Polizist Werner Bierbach geht es um die praktische Umsetzung der Ordners: „Darin steht, dass sich Lehrer und Schüler im Falle eines Amoklaufs einschließen sollten. Leider gibt es an vielen Schulen Türen, die sich von innen gar nicht abschließen lassen.

Im Notfall sollte auch ein Codewort über die Lausprecheranlage verbreitet werden. Aber in manchen Klassen ist gar kein Lautsprecher installiert. Schließlich müssten die Gebäude und Flure so gekennzeichnet werden, dass Polizisten den Tatort auch schnell finden können.”

Gerangel um Stellen

An der Willy-Brandt-Gesamtschule gibt es zwei Sozialpädagoginnen, an die sich Kinder in Not wenden können. Aber diesen „Luxus” gönnt sich nicht jeder. „Die werden als Lehrerstellen angerechnet, deshalb halten sich Schulen da eher zurück”, sagt Peter Hatebur von der Brandt-Gesamtschule. Eigentlich, da sind sich alle einig, müssten das Notfall-Training und die Ausbildung von Krisen-Teams Pflicht sein. „Wenn man uns vier freistellen würde, könnten wir 160 Schulen im Jahr trainieren”, rechnet Christine Löbus. „Die Frage ist: Wie viel ist dem Land diese Sicherheit wert?”