Kiel.

Die Stadt Dortmund will einen Raum für Trinker einrichten. Eine Mehrheit aus CDU, Grünen und FDP/Bürgerliste im Rat hatte im Februar den zweijährigen Modellversuch abgesegnet. In Kiel gibt es bereits einen Raum für Trinker. Alkoholiker werden damit von der Straße geholt.

Immer wieder hat man sie vertrieben, Michael* und seine Freunde: Ganz früher standen sie an dem Mäuerchen bei Aldi, bis man sie davonjagte, dann nahmen sie sich den Spielplatz ums Eck – das ging natürlich auch nicht! Jetzt sind sie in diesem Raum, „das hier ist unser Palast, das ist unser Wohnzimmer hier“, sagt der 43-Jährige mit schwerer Zunge, „das hier ist privat, da kann kein Staat, niemand was dagegen machen, niemand.“ Zeit für einen Schluck, Aldi-Bier aus Plastikflasche; die brennende Zigarette gibt Michael seinem leicht schwankenden Bruder für einen schnellen Zug.

Palast fiele einem selbst nicht direkt ein, ja noch nicht einmal Wohnzimmer. Dies ist der Trinkraum in der Schaßstraße, Innenstadt von Kiel: Größe kleine Eckkneipe, Plastikstühle, vier einfache Tische, frontal eine Theke, Linoleumboden. Halb eins mittags, der Raum ist zugequalmt, die Luft alkoholsatt, 40, 50 Menschen sitzen da, gehen aus und ein: Mühselige und Beladene, Tätowierte und Mehrfachsüchtige, alles jedenfalls Trinker, Menschen darunter, die glasigen Blickes sind um halb eins mittags; einige sehen aus, als seien sie dem Fluch der Karibik entsprungen, und nur wenigen, jüngeren, steht der Alkohol noch nicht ins Gesicht geschrieben, dem Mädel da: Was für ein Jammer das wird!

Ganz unten. Ganz unten hat geöffnet von 9 bis 15 Uhr, wenn die Menschen sonst auf der Straße stünden. Ihr Bier und ihren Wein müssen sie selbst mitbringen hierher, die weiteren Regeln: kein Schnaps, keine Drogen, keine Waffen, keine Gewalt. Im 1. und 2. Stock sitzt die organisierte Sozialarbeit, eine Schuldnerberatung, dann „Hempels“, Straßenzeitung und Suppenküche zugleich. Hempels betreibt auch diesen Trinkraum, „Zum Sofa“, und Geschäftsführer Reinhard Böttner erklärt jetzt mal das Prinzip: „Wir stülpen den Leuten keine Hilfe über, aber wir helfen, wenn sie mit ihren Problemen zu uns kommen.“ Man sagt ja auch: Bei Hempels auf’m Sofa.

Nein, ganz unten waren sie früher, da draußen auf der Straße. „Die finden das selbst ja nicht witzig, draußen zu stehen und zu saufen, sondern sie suchen auch ihre sozialen Kontakte. Sie wollen auch nicht vereinsamen in ihren Wohnungen“, sagt Christoph Schneider. Der Abteilungsleiter für „Wohnungs- und Unterkunftssicherung“ in der Kieler Stadtverwaltung gilt als Erfinder des Trinkraums, den es bisher nur ein Mal in Deutschland gibt. Allerdings: Hamburg und Freiburg haben jetzt Beamte entsandt, zu schauen, wie das geht, Herten denkt an einen Trinkraum, Dortmund hat ihn schon beschlossen.

Von der Straße geholt

„Warum sind wir die einzigen in Deutschland?“, fragt Manfred Wagner rhetorisch, der Leiter des Wohnungsamtes, und antwortet sofort selbst: Zwei einflussreiche Gruppen stemmten sich überall dagegen, „Ordnungspolitiker, die sagen, das darf man nicht dulden, und Sozialpolitiker, die sagen, denen muss man helfen“. Wagner nennt das „verfolgende Sozialarbeit“; und umgekehrt lautet die Polemik gegen den Trinkraum, in dem niemand sozialbearbeitet wird, der das nicht will: „Betreutes Saufen!“

Immerhin: Man hat die Leute von der Straße geholt. „Obwohl eigentlich wenig geschah, hatten Passanten immer Erwartungsangst, wenn sie der Szene begegneten“, sagt Schneider. Nun sind keine harten Trinker mehr zu sehen in der Innenstadt. „Seit das hier ist, gibt es auf der Straße kaum noch Krach“, sagt ein Mann, der im Trinkraum darauf wartet, dass die Suppenküche öffnet: „Manchmal treffe ich hier Kollegen, aber viele sind auch gestorben.“ Er selbst trinkt gerade einen Kaffee, und in den Kaffee schüttet er Zucker, Unmengen Zucker. Zucker ist: Kalorien.

Laute Gespräche, Rockmusik und große Hunde, und hinter dem Tresen sagt Dirk, der nicht trinkt, sondern der hier arbeitet: „Immer die gleichen Typen, immer die gleichen Themen. Alkohol, Substitution, wo krieg’ ich am billigsten was her . . . Die stecken in einem Teufelskreis.“ Manche, sehr wenige finden doch noch einen Ausweg, sie finden Anschluss an die Strukturen von Hempels, beginnen vielleicht, die Zeitungen zu verkaufen oder wechseln von vor der Theke in den Minijob hinter der Theke. „Ich bin süchtig, ich treib’ mich manchmal selbst ins Verderben, aber ich raff’ mich auch schnell wieder auf“, sagt Marco aus Wyk: „Ohne das hier wären so viele schon abgestürzt.“

Keine Probleme mit den Nachbarn

Probleme mit den Nachbarn hier, mitten im Wohnviertel, gibt es nicht. „Die Leute aus dem Trinkraum wollen ja gerade keinen Ärger, die möchten in Ruhe gelassen werden und den Standort nicht gefährden“, sagt Schneider, der Abteilungsleiter. Dabei „ist uns schon klar, dass wir die Wunde nur zupflastern und nicht heilen“. Kiel, völlig überzeugt, eröffnet im Sommer einen zweiten Trinkraum auf der anderen Seite der Bucht.

*Namen aller Besucher geändert