Essen. Heime, Internate, psychiatrische Kliniken und Schulen sind oft geschlossene Systeme, die sich nach außen abschotten. Was hinter ihren Mauern vorgeht, erfährt kaum jemand.

Hunderte Missbrauchsfälle kommen in diesen Tagen ans Licht. Doch trotz dieser erschreckenden Zahlen sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Professor Jörg Fegert: „Eigentlich bin ich nicht erstaunt.” Seit Jahren befasst er sich als Gutachter mit dem Thema und meint: „Wir könnten schon weiter sein.” Doch Heime, Internate, psychiatrischen Kliniken und Schulen sind oft geschlossene Systeme, die sich nach außen abschotten. Was hinter ihren Mauern vorgeht, erfährt kaum jemand. Und für wenige Institutionen gilt das mehr als für die katholische Kirche mit den ihr eigenen Hierarchien, mit ihrer strengen Sexualmoral.

St. Pölten ist ein Beispiel von vielen. 40 000 Bilder und Videos wurden 2004 auf den Computern des niederösterreichischen Priesterseminars entdeckt. Die Polizei interessierte sich vor allem für die vielen Funde von Kinderpornographie. Die Kirche selbst schockierten die Bilder, die sexuelle Kontakte zwischen jungen Priestern und Seminarleitern zeigten. Zungenküsse, Griffe an den Schritt.

„Die Kirche ist ein geschlossenes Männersystem, das sich durch restriktive Verhaltensvorschriften, durch den Pflichtzölibat sowie durch die Einschränkung des Priesteramtes auf Männer reguliert. Es bestehen also Machtpositionen, die Missbrauch geradezu herausfordern”, sagt Bernd Göhrig, Geschäftsführer der Kirche von unten.

Fast alle Einrichtungen, wo nun Missbrauch und Gewalt bekannt wurden, genießen hohes Ansehen, besitzen eine strenge Hierarchie, verhängen eigene Strafen und sonnen sich in geachteter Tradition. „Eltern vertrauen Kinder diesen Institutionen in gutem Glauben an”, sagt Fegert, Direktor für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm. „Die Kinder leben dort in einem Abhängigkeitsverhältnis, in einem hermetischen System.” Und sind ihm ausgeliefert. Macht macht Missbrauch. Und der hat viele Gesichter. Eines der hässlichsten ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen, die sie eigentlich schützen sollen. Besonders in Eliteeinrichtungen wie etwa der hessischen Odenwaldschule ist es für die Opfer schwer, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Sie laufen Gefahr, aus der Schule, dem Chor, dem Sportverein zu fliegen und ihr soziales Umfeld zu verlieren. So erklärt sich, neben der Scham, das oft jahrzehntelange Schweigen.

Geschwiegen wird auch, wird gerade in der katholischen Kirche. Erst 2001 erließ sie eine Direktive, die für Schulen in katholischer Trägerschaft gilt und Missbrauchsfälle zunächst unter päpstliche Geheimhaltung stellt. „Sich zu Übergriffen hinreißen zu lassen, das kann auch nicht zölibatär lebenden Menschen passieren. Aber der Zwangszölibat verursacht ein Milieu des Misstrauens, des Mitwissertums und der Abhängigkeiten”, sagt der Wiener Theologie-Professor Ulrich H.J. Körtner, früher als Pfarrer in Bielefeld tätig. Missbrauch ist kein Zufall. „Die Täter engagieren sich als Mitarbeiter in Institutionen, um so leichter mit möglichen Opfern in Kontakt zu kommen”, sagt Ursula Enders von „Zartbitter” in Köln, einer Beratungsstelle für Opfer von sexuellem Missbrauch.

Die Anstaltsmauern durchlöchern

Die Täter gingen bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes strategisch vor. Sie achteten darauf, wie die Einrichtung geführt wird, erklärt Enders. Bevorzugt würden Häuser mit autoritären Leitungsstrukturen, wo traditionelle Rollenbilder gelten.

Dass es oft gerade verklemmte, junge Männer sind, die den Priesterberuf ergreifen, betont auch Bernd Göhrig, der jahrelang in der katholischen Verbandsjugendarbeit tätig war. „Sie fühlen sich von der Kirche angelockt, weil sie sich dort nicht mehr mit ihrer Sexualität auseinandersetzen müssen.” Körtner spricht von „unreifer Sexualität”. Wo Sexualität so tabuisiert ist, wo Machtstrukturen und Abhängigkeiten so stark sind, werden Menschen erpressbar.

Doch wie lassen sich Heim- und Internatsmauern durchlöchern? Zuweilen mit simplen Methoden. „Alles, was die Strukturen aufweicht, hilft”, weiß Fegert. So ließ er in seiner Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Freisprechanlagen einbauen mit direktem Draht zum Jugendamt. Die Außenwelt müsse in die Anstalt hineingeholt werden, etwa durch externe Sportangebote. Einfache Regeln wirkten vorbeugend: So sollte kein Sporttrainer im ersten Jahr mit den Kindern allein verreisen dürfen. Träger von Einrichtungen sollten finanzielle Förderungen von Konzepten gegen Missbrauch abhängig machen.

„Wir brauchen einen Verhaltenskodex für Mitarbeiter”, sagt Ursula Enders. Sie fordert eine „Kultur der Grenzachtung”. Das beginne bei abfälligen Bemerkungen unter der Dusche über Penislängen oder Busengrößen. „Da muss jemand einschreiten!“ Schon vor strafrechtlich relevanten Taten müssten Maßnahmen bis zur Kündigung möglich sein. Für die Kirche fordert Bernd Göhrig eine unabhängige Aufklärung, intern werde über die Skandale „immer noch das Händchen” gehalten. Göhrig: „Für Missbrauchsfälle gilt, ein Kind muss siebenmal etwas erzählen, bevor ihm geglaubt wird.”